Fußball
Forscher lüften Geheimnis des Wundertors
Von Irene Berres
3. Juni 1997. Länderspiel Brasilien gegen Frankreich. Ein paar Schritte sind es nur, die Roberto Carlos für sein Wunder braucht. Die Stollen des rechten Fußballschuhs bohren sich in den Boden, der linke Fuß folgt – und Schuss!
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Aus 35 Metern Entfernung rast der Ball scheinbar aussichtslos in Richtung rechte Eckfahne. Zehn Meter neben dem Tor duckt sich ein Balljunge – doch er ist gar nicht in Gefahr. Der Ball schwenkt im letzten Moment scharf nach links, fliegt vorbei am französischen Torwart Fabien Barthez ins Netz.
Barthez blickt dem Ball erstarrt hinterher.
Die Brasilianer feiern das Tor als einen der geschicktesten Freistöße der Geschichte, andere halten den Treffer für einen einzigartigen Zufall. Reicht das Anschneiden des Balls wirklich aus, damit er eine scheinbar absurde Flugbahn nimmt? Jetzt, 13 Jahre später, beenden französische Physiker das Rätseln über das Wundertor.
Eine mathematische Formel soll erklären, was den Ball im letzten Moment ins Tor trieb – und wie ein derartiger Treffer wiederholt werden könnte. Drei Zutaten machten das Wundertor möglich, schreiben die Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts „New Journals of Physics“: die große Entfernung zum Tor, ein harter Schuss und genau die richtige Ballrotation.
Um das Fußballrätsel zu lösen, schossen die Forscher kleine Plastikkugeln mit einer Schleuder durch ein Wasserbecken und beobachteten die Bewegungen. Dabei experimentierten sie mit verschiedenen Rotationsgeschwindigkeiten, ließen die Kugeln mal rasant durchs Wasser schießen und mal nur langsam trudeln.
Die Versuche lieferten ein eindeutiges Ergebnis: Wird eine Kugel mit genügend Schwung und Rotation abgeschossen, bewegt sie sich mit einem immer stärkeren Drall in eine Richtung. Schließlich dreht sie sich in eine spiralförmige Flugbahn, deren Form den Rillen eines Schneckenhaus ähnelte.
Dieser Effekt war es auch, der Roberto Carlos‘ Ball abrupt in Richtung Tor lenkte. Wird ein Ball kräftig mit dem Innen- oder Außenrist des Fußes geschossen, erhält er – ähnlich wie die Plastikkugeln im Versuch – eine Beschleunigung nach vorne und beginnt, um seine eigene Achse zu rotieren. Dies führt dazu, dass sich der Ball mit einer enormen Geschwindigkeit vorwärts bewegt. Gleichzeitig verursachen die Drehungen um die eigene Achse eine Verwirbelung der Luft, die auf den Ball wirkt wie eine seitwärts gerichtete Kraft ( Magnus-Effekt).
Das Ergebnis: Die Flugbahn des Balls erhält einen leichten Links- oder Rechtsdrall. Es entsteht die berühmte Bananenflanke, die in den achtziger Jahren Manfred Kaltz vom Hamburger SV zur Perfektion gebracht hat.
Was aber ließ Roberto Carlos‘ Ball plötzlich eine scharfe Kurve einschlagen? Ursache war vor allem der weite Flugweg, haben die Forscher herausgefunden.
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Nach einer Weile beginnt der Luftwiderstand die Vorwärtsbewegung des Balls zu bremsen. Die Geschwindigkeit lässt nach, während die Drehung um die eigene Achse anhält. Dadurch steigt der Einfluss der Rotation auf die Flugrichtung, und der leichte Drall des Balls entwickelt sich zu einer scharfen Kurve – so wie kurz vor Carlos‘ Tor.
Soweit kommt es jedoch nur selten. Bananenflanken werden in der Regel aus 20 bis 25 Metern Entfernung geschossen. Dann aber sei in der Regel nur der Anfang der Kurve zu sehen, schreiben die Forscher. Erst wenn die Bälle eine weitere Entfernung zurücklegten, deute sich die spiralförmige Bewegung an.
Obwohl der Trick jetzt bekannt ist: Häufig wird man den Spiralball wohl kaum zu sehen bekommen. Denn um mit einem Fußball eine derartige Flugbahn zu erreichen, bräuchten Spieler neben der ausgefeilten Spieltechnik eine Menge Kraft und Glück, schreiben die Forscher. Carlos hatte alles bei seinem historischen Wundertor.