nächster termin: 5.7.2012
hier ein aktueller artikel zum klangwechsel am 5.8.2011 von tim hofmann:
Brummen für die Ewigkeit
In Halberstadt sorgt das John-Cage-Orgelprojekt mit der Aufführung des längsten Musikstückes der Welt in langen Abständen für kalkuliertes Aufsehen
Halberstadt. Wie beschreibt man ein 639 Jahre langes Musikstück, das, wenn man sich beim entsprechenden „Konzertbesuch“ einen Ausschnitt gönnt, nur aus unveränderlich brummenden Dauertönen besteht? Gestern Abend wurde in der Buchardikirche in Halberstadt in der auf eben diese Rekordlänge gestreckten John-Cage-Komposition „Organ2/ASLSP“ ein Akkordwechsel vollzogen, womit die Stadt erneut ein Ereignis beschert bekam, das in gewisser Weise einer lokalen Sonnenfinsternis gleicht: Was dabei erlebt werden kann, ist an sich völlig unspektakulär – besonders wird es erst, wenn man sich die Besonderheit bewusst macht. Als „virtuos“ und „spektakulär“ pflegen manche Kritiker solche Klangwechsel zu beschreiben – und wirken dabei unschlüssig, ob sie das ernst oder ironisch meinen sollen.
Klingender Besucher-Schatz
Die Fakten: In Halberstadt sind gestern Abend die Töne C und Des als die bisher tiefsten Klänge innerhalb der Aufführung des Cage-Stückes angeschaltet worden. Sie erklingen bis fast an das Ende der Aufführung des ersten Teils im Jahr 2072, das C insgesamt 36 Jahre (bis zum 5. Oktober 2047) und das Des fast 60 Jahre (bis zum 5. März 2071). Abgeschaltet wurde nach nun über drei Jahren das As – eine Aktion, die Hunderte in die Kirche lockte. Das John Cage Orgelprojekt hat sich zur weltweiten Attraktion für Halberstadt gemausert. Das „Konzert“ verbucht als einziger Touristenmagnet der Stadt steigende Besucherzahlen, wie Hans Jörg Bauer, Vorstand der Stiftung „John Cage Orgelprojekt“, mit Stolz betont: „Wir bekommen keinerlei Fördermittel, das Projekt wird allein aus Spenden finanziert.“
Und Besucherzahlen, die gelten in Halberstadt als harte Währung. Der Ort hat im Harz ein ähnliches Problem wie Chemnitz in Sachsen zwischen Dresden und Leipzig: Verglichen mit seinen Nachbarn Quedlinburg und Wernigerode ist Halberstadt eine graue Maus. Aufwändig saniertes Welterbe und massenhaft Touristen dort, vordergründiger DDR-Charme hier – hinter dem sich aber verblüffend viel Erlebenswertes verbirgt. In Halberstadt ist das der Domschatz, die größte Vogelsammlung der Welt – und eben das John-Cage-Stück.
Betritt man die Buchardikirche, muss man sich zuerst einmal von zwei Vorstellungen lösen: Erstens, dass es um die Musik von John Cage geht – und zweitens, dass der unveränderte Dauerton, der die überdachte Ruine erfüllt, einfach nur ein tinnitus-artig nervender Dauerton ist. Die Intention von Cages Werk „Organ2/ASLSP“ verpufft bereits in dem Ansatz, das Stück automatisch abzuspielen. Die Grenzerfahrung bei der Komposition besteht ja gerade darin, dass ein Musiker bei jedem Ton entscheidet, wie lang er ihn halten kann: Nämlich bis an die Grenze, an die es ihm möglich ist. Wann lässt man ihn in den Klangwechsel kippen? Wo endet die Musik, wo zerfallen ihren Strukturen, wo verlieren die Töne ihre harmonischen Bezüge? Das geht nur von Hand – so wie der Reiz eines extrem schnellen Paganini-Stückes darin besteht, dass ein Virtuose die Geschwindigkeit musikalisch erkämpft. Ein Computer könnte das auf einen sekundenbruchteilkleinen Klangklumpen schrumpfen – so wie man Cages Orgelwerk auch zehnmal so langsam wie in Halberstadt laufen lassen könnte: Es wäre dann, weil technisch erzeugt, trotzdem nie „so langsam wie möglich“ – und würde trotzdem aus jahrelangen Brummtönen besteht.
Schreiten durch Klang und Zeit
Warum also hat sich Halberstadt mit dieser Musik-Konstruktion trotzdem einen Besuchermagnet geschaffen, der laut Bauer 95 Prozent der Gäste schlichtweg begeistert? Immerhin: Kurz nach dem Auftakt 2001 kamen pro Jahr rund 2000 Besucher, 2010 waren es bereits rund 10.000. Die Klangwechsel locken jeweils Hunderte, der Rekord liegt bei 1000 Gästen. „Es ist vor allem der philosophische Anspruch des projektes, die Möglichkeit, sich mit der Zeit auseinander zu setzten“, sagt der Vorstand. Und in der Tat: Die Vorstellung, dass diese Töne, die man hört, die eigene Enkelgeneration weit überdauern werden, hat etwas sehr optimistisches. Dabei löst sich die zweite Vorstellung des Brummton-Nervens auf, denn erst einmal ist man überrascht, wie klein das Orgelmodell im Seitenschiff der Kirche ist: Die Töne sind leise und eindringlich, aber massiv in der Präsenz. Den Klang formt kein Musiker, sondern der Besucher: Mit dem Herumwandeln im Gemäuer ändert er sich, man schreitet durch Klang, der einerseits unendlich scheint – andererseits, und das lässt er einen spüren, eben am Leben gehalten werden muss. Das passiert unter anderem dadurch, dass die Stiftung Plaketten vergibt – eine für jedes Klangjahr, die Mindestspende beträgt 1000 Euro. 190 Stifterplaketten sind schon weg – der Spender kann auf den rund CD-Cover-großen Täfelchen verewigen, was er möchte. Wenn die Stiftung es zulässt: In der Galerie ringsum an der Kirchenwand finden sich Filmzitate, Liebesgrüße, philosophische Gedanken, Geburts- und Todesgedenken und sogar Internet-Adressen.
.erschienen am 06.08.2011 ( Von Tim Hofmann ) .© Copyright Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG
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