berliner abendblätter 2.00 am 17.10.

17.10.

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der Festhaltung
eines ausländischen Strafverfolgten im Rahmen internationaler
Rechtshilfe

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit, reiste im Jahre 2003 in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Zur Begründung seines Asylantrags trug er im
Wesentlichen vor, aufgrund seiner Aktivitäten als Mitglied der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von den türkischen Behörden gefoltert
und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein.
Durch die deutschen Behörden wurde zunächst festgestellt, dass in der
Person des Beschwerdeführers die Voraussetzungen eines Abschiebeverbots
wegen politischer Verfolgung vorliegen, und später auch seine
Asylberechtigung anerkannt.
Im September 2006 wurde der Beschwerdeführer aufgrund eines türkischen
Festnahmeersuchens, ausweislich dessen er an Bombenanschlägen und
Tötungsdelikten in der Türkei beteiligt gewesen sein soll, in
Deutschland festgenommen und dem Amtsgericht vorgeführt. Nach einem von
dort eingeholten Bericht des Landeskriminalamtes ist bei dem
Beschwerdeführer ein posttraumatisches, ggf. auch hirnorganisches
Psychosyndrom nach langer Haft, Folter und Hungerstreik ärztlich
diagnostiziert worden, aufgrund dessen bei längerer Haft mit schweren
psychischen Krisen bei ihm zu rechnen und eine Fluchtgefahr eher
unwahrscheinlich sei. Nach Anhörung des Beschwerdeführers ersuchte das
Amtsgericht mit nicht unterzeichnetem formularmäßigem Schreiben ohne
Begründung die Justizvollzugsanstalt um Aufnahme des Beschwerdeführers
zum Vollzug und ordnete mit Beschluss die ärztliche Begutachtung zur
Feststellung seiner Haftfähigkeit an. Der Beschwerdeführer wurde sechs
Tage später aus der Haft entlassen, nachdem seine Haftunfähigkeit
ärztlich festgestellt worden war. Mit Beschluss vom Juni 2007 lehnte das
Kammergericht seine Anträge auf Gewährung einer Haftentschädigung und
Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung ab.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch die Inhaftierungsanordnung des
Amtgerichts und den ablehnenden Beschluss des Kammergerichts in seinem
Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Die Regelung des § 22 Abs.
3 Satz 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen
(IRG) sei als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer
Festhalteanordnung verfassungswidrig, da sie keine richterliche
Sachaufklärung für die Freiheitsentziehung voraussetze. Selbst bei
verfassungskonformer Auslegung fehle es an einer formell und materiell
rechtmäßigen Festhalteanordnung des Amtsgerichts.
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie den Beschwerdeführer
in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
den Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung aus Art. 104 Abs. 1 bis 3 GG
verletzen. Die Sache ist an das Kammergericht zur erneuten Entscheidung
zurückverwiesen worden.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlicher Verfahren, dass
Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf
zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in
tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der
Freiheitsgarantie entspricht. Den sich daraus ergebenden
verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen
Entscheidungen nicht gerecht.
1. Soweit der Beschwerdeführer allerdings die Verfassungswidrigkeit der
Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG als solche rügt, hat seine
Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg. Die Vorschrift setzt zwar nach
ihrem Wortlaut für die Anordnung der Festhaltung im Rahmen
internationaler Rechtshilfe lediglich die richterliche Prüfung der
Identität des Festgenommenen voraus, nicht aber eine Sachaufklärung des
Amtsgerichts zur Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die
Freiheitsentziehung. Diese ist nach § 17 IRG erst dem Oberlandesgericht
vorbehalten, dem dabei keine Entscheidungsfrist gesetzt ist.
Zur Ausräumung der sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen
Bedenken, ob ein Gericht bei Freiheitsentziehungen von einer sachlichen
Prüfung überhaupt derart weitreichend freigestellt werden darf, bedarf
es einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung des § 22 Abs. 3
Satz 2 IRG. So ist das Amtsgericht zumindest in Evidenzfällen
verpflichtet, in summarischer Weise auch das Vorliegen eines Haftgrundes
und die weiteren Haftvoraussetzungen nach dem IRG in seine Prüfung
einzubeziehen. Liegt danach ein Haftgrund offensichtlich nicht vor oder
ist die Auslieferung von vornherein unzulässig, muss das Amtsgericht vor
seiner Entscheidung zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage mit der
Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, damit diese entweder die
umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche
oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann. Bleiben durchgreifende
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft, über die das Oberlandesgericht
nicht fristgerecht entscheiden kann, so muss das Amtgericht in
erweiternder, verfassungskonformer Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG eine
Freilassungsanordnung erlassen.
2. Die beiden Fachgerichte haben sich vorliegend nicht hinreichend mit
der dem Beschwerdeführer drohenden Gefahr politischer Verfolgung in der
Türkei auseinandergesetzt, obwohl sich die Prüfung eines daraus
folgenden Auslieferungshindernisses nach dem IRG aufdrängen musste. Denn
der Beschwerdeführer war von den dafür zuständigen und sachkundigen
Bundesämtern als politisch Verfolgter und Asylberechtigter anerkannt
worden. Es fehlt schon an einer für den Beschwerdeführer und das
Bundesverfassungsgericht nachprüfbaren Entscheidung über die
Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht, das keine schriftliche
Festhalteanordnung gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG erlassen, sondern
lediglich um Aufnahme des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt
ersucht hat. Eine solche Verfahrensweise widerspricht den
verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien bei Freiheitsentziehung,
insbesondere dem Richtervorbehalt, und erschwert die Eröffnung der
Verteidigungs- und Einwendungsmöglichkeiten des Festgenommenen.
Ebenso wenig befassen sich beide Gerichte mit der gleichermaßen
naheliegenden Frage, ob im Falle des Beschwerdeführers, der über ein
gesichertes Aufenthaltsrecht und eine Meldeanschrift in Deutschland
verfügt, auch angesichts seines Gesundheitszustands der Haftgrund der
Fluchtgefahr ausnahmsweise verneint werden kann. #
Copyright © 2010 BVerfG, Bundesverfassungsgericht – Pressestelle –
Pressemitteilung Nr. 91/2010 vom 5. Oktober 2010
Beschluss vom 16. September 2010 – 2 BvR 1608/07 –

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Letztes Wort
„Nothing, but death.“ („Nichts, außer den Tod.“) [zu ihrer Schwester Cassandra, die fragte, ob sie sich noch etwas wünsche]
Jane Austen, englische Schriftstellerin, 1817