berliner abendblätter 2.00 am 17.11.

17.11.
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2-3 Straßen
Stell dir vor du willst Görlitz und kriegst die Ruhr. Aber Moment. Die Ruhr ist ja nicht Kulturhauptstadt geworden, sondern …. Was sprach Gott, als er das Ruhrgebiet geschaffen hatte? Essen is fertich!
Also Essen und nicht Duisburg. Oder doch ein bißchen Duisburg? Jochen Gerz „bespielt“ mit seiner Kunst jedenfalls nicht Essen, aber Dortmund, Duisburg und Mülheim an der Ruhr. Der Meister nennt, was er macht, eine „Ausstellung“, und die besteht aus sozusagen geladenen Teilnehmern und Besuchern, die gleich Teil des Kunstwerks werden. Denn es wird erst gewohnt und dann auch gelebt, auf Zeit für ein Jahr. 78 Mitmachende beziehen 60 Wohnungen zum Preis des – nicht Mietzinses, sondern des Mitschreibens am „Fließtext“. Zu jeder Wohnung gehört nämlich ein laptop und der soll bedient werden. Der Text wird nach dem Ende des Jahres, im Februar 2011, in einer Auflage von 3.000 Stück für 68 Euro als Buch auf den Markt gebracht. Die unterschiedlichen Textblöcke sind dann nur durch einen Schrägstrich voneinander getrennt und in einem Register tauchen die Namen der Autoren auf. Beim Wohnen selbst fallen nur die Nebenkosten an.
Die Häuser sind meistenteils von Leutchen mit Wohnberechtigungsschein bewohnt. Für sie hat die neue Nachbarschaft eine unerwartet erhöhte Aufmerksamkeit und demzufolge Hebung des Selbstwertgefühls gebracht. Journalisten und Sender belagern das Kunstwerk in den drei Städten unausgesetzt. Hermann Pfütze ist Vertrauter des Künstlers und der Herausgeber des zu erwartenden Schreib-Elaborats auf Papier bestehend aus zwei Bänden, der Chronik („Fließtext“) und eines Making-of-Bandes mit vornehmlich Fotografien. Er zog gestern am Einstein-Forum in Potsdam ein vorläufiges Resümee. Leider ist beim Zuhören seines Vortrags schwer zu trennen, ob nun die Künstlerphilosophie des Gerz´ referiert wird oder sein eigener, soziologischer Approach zu Wort kommt. Mithin ein Loyalitätsphänomen. Streckenweise hört es sich sehr wie eine Marketing-Veranstaltung für das Projekt an. Aber dieses hat beim jetzigen Stand Werbung nicht mehr nötig, denn das Ganze ist ein Erfolg und nicht nur dann, wenn man es mit dem anderen Duisburger Groß-Projekt des Jahres 2010, der Love Parade, vergleicht. Allerdings wäre die Frage berechtigt, ob es denn irgendwie auch ein Schlag ins Wasser hätte werden können. Wir befinden uns auf dem Gebiet von Experimentalkunst und da gelingt letztlich jeder Laborversuch. Noch mal zur Anordnung. Vornehmlich im Internet wird aufgerufen, für ein ganzes Jahr ins Gebiet zu kommen und aktiv zu wohnen, sprich die Nachbarrolle auszufüllen, die Umwelt zu bemerken, achtsam zu sein, und das Tagebuch in den Compi zu hacken, ganz ohne Vorgabe betreffend des Inhalts. 1.457 Bewerbungen gehen ein. Genommen wird, wer einen Motivations-Hürdenlauf durchhält, also einen das Projekt präzisierenden e-mail-Wechsel bis zum Finish mitmacht. Es läuft auf Singles und Paare heraus, deren Lebensplan den Luftwechsel zulässt.
Hinter dem ganzen steckt eine veritable Demokratie-Theorie und Demokratie-Emphase, eine Anordnung, die geeignet ist, Thesen zu bestätigen und zu kreieren. In der Krise bewältigt man die Existenz besser ohne Geld als mit Geld, ist zum Beispiel so ein Satz. Oder Gemeinschaft hat Gesellschaft zur Voraussetzung und ist nicht ihr Gegenpol, wie das ein alter deutscher Denkstrang wahrhaben wollte. Oder Teilhabe beginnt mit der Bereitschaft der Anderen, die Welt mit dir zu teilen. Oder Ausschluss schafft nicht Platz, sondern vernichtet Handlungsspielraum. Oder in der Demokratie ist es nicht zu eng für zu viele. Canetti und Ortega y Gasset werden beschworen und irgendwann merkt es auch der letzte im Auditorium: „2-3 Straßen“ ist die bessere Massenveranstaltung als sich im Zeichen von Love zu nahezukommen und sich tot zu quetschen.
Der rote Faden des derzeit „soziologischsten Künstlers“ (Pfütze über Gerz) wird bezeichnet vom Grundrecht auf Angstfreiheit, Schaffung offener, nicht-feindseliger Milieus, der Frage: Wer kann Kreativität?
Das sind alte Forderungen und Fragen, die immer richtig waren, gediegene Sozialutopie eben. Die Kommunalpolitiker werden angefixt vom Slogan „Lebensqualität statt Rendite“, das wird aber die eben ausfließenden Kassen der Städte nicht wieder auffüllen. Es soll kein Modellprojekt sein, referiert Pfütze des Künstlers Intention, und schiebt nach, dass es doch verwunderlich sei, warum nicht Quartiersmanager und Städteplaner solche temporären Versuchsanordnungen initiierten. Denn bei aller Verwertungsferne des Ansatzes von „2-3 Straßen“ ist es den Teilnehmenden nicht ausgeschlossen, in den Wohnungen zum echten Mietzins kleben zu bleiben, was auch ein beträchtlicher Teil tun wird.
Wer das Kunstwerk in Echtzeit noch erleben will, möge sich in besagte Städte begeben, es gibt mannigfache Andockstellen wie zum Beispiel „Besucherschulen“ und Cafés. Im Museum Folkwang flimmert auch jetzt schon ein laufendes Band mit dem Text, der fabriziert wird. Siehe www.2-3straßen.eu
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Thilo Sarrazin hat schon über eine Million Bücher seines Titels „Deutschland schafft sich ab“ verkauft. Die taz ist eifrig mit synoptischem Lesen der einzelnen Auflagen und hat jetzt eine unverhoffte Entdeckung gemacht: Er korrigiert sich, oder wenigstens, er ändert Stellen ab! Die 14. Auflage sieht so aus: Ein Satz zu „genetischen Belastungen“ von Migranten aus dem Nahen Osten ist ganz gestrichen. „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar“ wird zu „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten auf lange Sicht eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar.“ Wer hat die Ergänzung bemerkt?
Veränderungen kommen auch in den Dankesworten vor: „Tobias Winstel von der Deutschen Verlagsanstalt“ habe ihn gebeten, ein Buch zu schreiben, hieß es bisher. Jetzt steht da: „Der Verlag sprach mich an.“ Die taz fragt, ob sich nun Sarrazin von Sarrazin distanziert habe. Auf jeden Fall tat er es von Tobias Winstel. Als Reaktion?
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Nachlese zu Karlsruhe
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Angelas Buchshop
Der 23. Parteitag der christ-demokratischen Union hatte die Anmutung einer Aktionärsversammlung. Aber die Boni für die zurückgetretenen Vorstandsmitglieder sind pfarrhäuslich-bildungsbürgerlich niedlich-charmant. Angela Merkel teilt Buchpräsente aus, die mit dem Empfänger etwas zu tun haben. Da hat jemand nachgedacht!
Ole kriegt was? Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert!
Althaus: The insane society von Erich Fromm.
Roland („Kotz“) Koch: Edmund Burke, Gedanken über die französische Revolution in einer deutschen Ausgabe von 1888.
Jürgen Rüttgers „Die Arbeiterfrage und das Christentum des Freiherrn von Ketteler.
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Merkelsatz des Tages:
„In Deutschland leben nicht zu viele Moslems, sondern zu wenig Christen.“
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Beste Freudsche Fehlleistung
„Jedes Kind braucht eine Chance. Das ist das große Verbrechen der sozialen Marktwirtschaft.“
U. von der Leyen
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Letztes Wort
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Et tu, Brute? „Auch du, Sohn?“
Gaius Iulius Caesar, römischer Feldherr, angeblich (es ist wahrscheinlich, dass Caesar aufgrund seiner Verletzungen nicht imstande war zu sprechen), 44 v.u.Z.