berliner abendblätter 2.00 am 18.12.

18.12.
Susan Philipsz erhielt den Turner-Preis 2010
Forts. aus der Welt und Schluss
Sie war als klare Favoritin der Buchmacher ins Rennen gegangen. Dass sie nun auch die mit 25 000 Pfund (rund 30 000 Euro) dotierte Auszeichnung erhielt, zeigt, dass sich die Jury in diesem Jahr für die beste der vier nominierten Künstler und Künstlergruppen entschieden hat. Das Skandalgeschrei um den Turner Prize ist in den letzten Jahren umso leiser geworden, je mehr sich die Engländer an die Gegenwartskunst gewöhnt haben. Es nutzten daher nur einige wenige die Preisverleihung am Montagabend, um lautstark zu demonstrieren – nicht gegen die Kunst sondern gegen Kürzungen beim staatlichen Sponsoring für Kultur wohlgemerkt. Das konnte die Preisträgerin, deren schöne Stimme diesmal vom Getöse verschluckt wurde, nicht anders als gut finden: „Die Proteste erinnern mich daran, wie ich früher selbst demonstriert habe“, sagte Philipsz, die als Teenager in Glasgow jede Woche zum Marxisten-Gruppentreffen ging und auf der Straße gegen Maggie Thatchers geplante Kopfsteuer, den „Poll Tax“, anschrie.
Im Wettbewerb setzte sich Philipsz in diesem Jahr gegen den Maler Dexter Dalwood, die Malerin Angela de la Cruz und die Künstlergruppe The Otolith Group durch. Die Schottin, die seit 2001 in Berlin lebt, präsentierte in einem leeren Raum mit Lautsprechern „Lowlands“ – eine Soundinstallation, die auch im Frühjahr in Glasgow und im Winter 2009 in Berlin zu hören war. Philipsz singt für dieses Werk „Lowlands Away“, ein schottisches Klagelied aus dem 16. Jahrhundert. In Glasgow war es unter einer Betonbrücke im Stadtzentrum zu vernehmen, wo Selbstmörder in den Fluss springen und jugendliche Obdachlose Klebstoff schnüffeln. In Berlin wurde es in der Galerie Isabella Bortolozzi präsentiert, die unweit des Landwehrkanals liegt, in den 1919 Soldaten die Leiche der ermordeten Kommunistin Rosa Luxemburg geworfen hatten. Dieses schreckliche Ereignis sei einer der Ausgangspunkte für das Werk gewesen, sagt die Künstlerin: „Luxemburgs Körper wurde erst Monate später gefunden, er war ganz von Algen und Gras bewachsen.“ Beim Nachdenken über die Kommunistin sei sie dann auf „Lowlands Away“ gestoßen.
Eine weitere Version von „Lowlands“ wurde 2009 von der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig in Köln angekauft. Direktor Kasper König lässt die schottische Ballade nun in einem Raum mit Blick auf den Rhein und die Hohenzollernbrücke erklingen. „Philipsz‘ Musik erzählt vom Fernweh, der Sehnsucht nach Palermo und den Schiffen auf dem Rhein“, sagt König. „Das sind auch die großen Themen der Romantik und des 19. Jahrhunderts.“ Es sei beeindruckend, wie die Künstlerin diese Phänomene destilliere und wie ökonomisch sie ihre Mittel einsetze. „Natürlich ist so eine Arbeit an der Grenze zum Kitsch. Aber wirklich kitschig ist sie dann eben doch nicht. Und das ist, was eine gute Skulptur ausmacht.“
König hatte Philipsz 2007 bei der vielbeachteten vierten Ausgabe der Skulptur Projekte Münster gezeigt. Damals hauste die körperlose Stimme der Schottin unter einer Betonbrücke. Sie sang die Barcarole aus Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ mit der zartschmelzenden Anfangszeile „Schöne Nacht, du Liebesnacht, o stille mein Verlangen.“
„Philipsz‘ Kunst bewegt sich zwischen Minimalismus und Schlaflied“, sagt Giovanni Carmine, Direktor des Kunst Haus Sankt Gallen, der im Frühjahr eine Einzelausstellung der Künstlerin zeigte. „Die Stimme als formales Mittel ist spannend, und wie sie den Raum nur durch den Sound entfaltet ist einzigartig.“ Sie arbeite dabei sehr präzise.
„Meine Stimme ist nichts besonderes“, erklärt Susan Philipsz selbst. „Sie ist eine ganz alltägliche, nicht großartig ausgebildete Stimme.“ Aber genau das sei der Trick dabei: „Jeder Zuhörer identifiziert sich mit der menschlichen Stimme“, sagt die Künstlerin. „Und der A-Capella-Gesang hat einen besonderen psychologischen Effekt: Er steigert die Aufmerksamkeit des Publikums.“
Das Singen hat Susan Philipsz übrigens als kleines Mädchen gelernt. In einem katholischen Kirchenchor.
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Die Frankfurter Rundschau führte ein Interview mit ihr aus Anlass der Verleihung im Dezember
Turnerpreis
„Eine untrainierte Stimme ist intimer“
Interview mit Turnerpreisträgerin Susan Philipsz über die Bedeutung der „Klang Skulptur“, was ihre Arbeit von gewöhnlicher Musik unterscheidet und warum sie sich lieber auf ihr Gefühl verlässt als auf Lautsprechertechnik.
FR: Frau Philipsz, Ihre Werke werden als „sound sculpture“ bezeichnet. Was bedeutet eigentlich „Klang Skulptur“?
S. Ph.:Gesang war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens: Als Kind war ich im Chor, ich war mal Lead Sängerin in einer Band; Gesang ist ein Bestandteil der schottischen Kultur. Während des Kunststudiums habe ich mit ein paar Freundinnen einen Chor gegründet. Es war zu dieser Zeit, dass mir richtig bewusst wurde, wie ich meine Stimme in den Raum projizieren konnte und wie die Architektur durch den Klang anders auf mich wirkte. Ich wurde mir beim Singen des Raumes in mir bewusst, und damit des Raumes, in dem ich hinein sang. Ich musste immer mehr über Klang als eine skulpturale Erfahrung nachdenken: Mich interessiert, wie man mit Klang einen Raum definieren kann.
FR: Sie haben Lieder von der Band Radiohead live über Lautsprecher in einem Supermarkt gesungen. Einige würden behaupten, dass das, was Sie da tun, einfach Musik ist.
S. Ph.: Für mich gibt es einen Unterschied zwischen „gewöhnlicher“ Musik und meiner Kunst: Ein gewöhnliches Musikstück versetzt einen an einen anderen Ort; man befindet sich beim Zuhören in einer Art Traumzustand. Die meisten Musikstücke werden sorgfältig produziert und von professionellen Sängern gesungen. Meine Stimme dagegen ist untrainiert; nach der Produktion ändere ich nichts. Zu den Werken, die sich draußen befinden, kommen dazu die Alltagsgeräusche: Züge, Busse, Passanten, der Fluss. Diese Dinge nimmt man als Teil der Erfahrung auf und sie verhindern, dass man in einem Traumzustand versetzt wird. Man wird sich und seiner Umgebung eher besonders bewusst. Statt durch die Musik weggezaubert zu werden, wird das Selbstempfinden verstärkt; man wird in dem Moment in seiner Umgebung verankerter, in seinem Bewusstsein geerdeter. Eine Straße, die man oft entlang gegangen ist, erlebt man so ganz anders.
Forts. folgt
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Wort des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden
„Wutbürger“
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Letztes Wort
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„Schwester, ich war es, der entdeckt hat, dass die Egel rotes Blut haben… Es ist wunderbar, wenn man sieht, dass die, die man liebt, noch schlucken können.“ [zuerst zu einer Krankenschwester, die ihm Blutegel ansetzte, dann bot ihm seine Tochter ein Glas Limonade an, er lehnte ab, sie trank es selbst]
Georges Cuvier, französischer Naturforscher, 1832