19.12.
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Susan Philipsz ist die diesjährige Turnerpreisträgerin. Die bildende Künstlerin hat sich auf Klangskulpturen spezialisiert.
Susan Philipsz, 45, geboren in Glasgow, Schottland, hat gerade den bedeutendsten britischen Kunstpreis, den mit 25.000 Pfund dotierten Turner Prize gewonnen. Sie lebt in Berlin.
Philipsz’ künstlerisches Interesse liegt in der Erkundung der skulpturalen Werte von Klang, meist Gesang, und dessen psychologischen und emotionalen Auswirkung im Raum. Ihre Gesangswerke singt sie selbst, und gerade weil ihre Stimme untrainiert ist, erscheinen diese mehr an die Sängerin selbst als an ein Publikum gerichtet zu sein. Philippsz, die sich in ihrer Kunst mit Themen wie Sehnsucht, Verlust und Verlangen beschäftigt, platziert ihre Soundinstallationen gerne dort, wo man sie gar nicht erwartet: an Bushaltestellen, in Supermärkten, oder wie derzeit mitten in der Londoner Finanzwelt. Gerade an Orten wie diese strahlen sie in ihrer minimalistischen Präsentation etwas beinahe Meditatives aus.
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Interview mit Susan Philipsz, Fortsetzung und Schluss
FR: Sie scheinen eher desolate, einsame Orte für Ihre Kunst auszusuchen…
S. Ph.: Meine Arbeit beginnt in der Regel mit dem Ort. Ich versuche interessante Orte für meine Kunst zu finden, ob historisch, logistisch oder architektonisch. Ich möchte sie aber nicht mit meiner Kunst verschönern. Ich versuche mit meinen Arbeiten die Aufmerksamkeit auf einer anderen Art auf sie zu lenken und neue Aspekte dieser Orte zur Geltung zu bringen. Der Hauptbahnhof von Helsinki etwa, den täglich 200.000 Leute passieren, ist ein riesiges Gebäude mit einer gewölbten Decke, deren Akustik sehr ungewöhnlich ist. Für meine Installation dort habe ich traditionelle finnische Schlaflieder nachgesungen. Mit Hilfe von einigen sehr unauffälligen Lautsprechern habe ich den Ton nach oben projiziert, wo er die Wölbung nach oben hin folgt und dann aus dem Nichts nach unten zu fallen scheint. Viele Leute blieben stehen und schauten nach oben, um zu sehen, woher der Ton kam – und erlebten so den Bahnhof neu.
FR: Die Lieder, die Sie aussuchen handeln oft von Themen wie Verlust und Sehnsucht.
S.Ph.: Menschen sind fasziniert von Sterblichkeit. Balladen evozieren Einsamkeit und oft singt man gerade diese Lieder, wenn man alleine ist. Wenn ich Stücke für meine Werke aufzeichne, will ich etwas von dieser Einsamkeit hervorrufen, und das bestimmt wiederum die Art des Liedes, das ich mir aussuche. Ich habe aber auch schon fröhliche Lieder ausgesucht – und dennoch singe ich irgendwie auf einer Art, dass selbst die bei mir traurig klingen.
FR: Warum lassen Sie die nicht von einer professionellen Sängerin singen?
S. Ph.: Eine untrainierte Stimme ist intimer; sie hat etwas Ehrliches und Nacktes und ist so sehr privat in einem sehr öffentlichen Raum, als würde ich allein für mich singen. Manchmal kann es etwas unheimlich wirken: In einem Supermarkt, wo ich über die Lautsprecheranlage einmal ein Lied von der Gruppe „Nirvana“ gesungen habe, blieben die Leute stehen und schauten einander an, als hätte man sie gerade dabei erwischt, jemanden belauscht zu haben.
FR: Derzeit ist Ihre Installation „Surround Me“ in dem Londoner Finanzdistrikt zu sehen. Die City gilt als nicht gerade kreativ…
S. Ph.: Als ich den Auftrag von der Kunstorganisation Artangel bekam, etwas in London zu machen, war ich begeistert. Ich bin an einem Wochenende in die City gefahren. Es war so leise dort, dass es fast unheimlich war. Die Ecke, in der sonst tausende von Menschen arbeiten, wirkte so leer komplett anders. Die City hat eine faszinierende Geschichte: Zahlreiche Autoren, auch Shakespeare, ließen sich von den Stimmen der Leute auf der Straße inspirieren – wo heute die Börse stand, standen früher Markthändler. Um in der Menge gehört zu werden, dachten sie sich richtige Harmonien für ihre Marktrufe aus. Die Werke des britischen Liedermachers Thomas Ravenscroft ?aus dem 17. Jahrhundert, die ich für dieses Stück verwende, sind von den Rufen der Markthändler in der City inspiriert.
FR: In „Surround Me“ hört man Ihre Stimme unter einer Brücke, im Schatten des berühmten, gurkenförmigen „Swiss Re“ Turmes, in einer winzigen Gasse…
S. Ph.: Die Architektur der City ist tatsächlich sehr vielseitig: von den historischen Gassen bis zu den großen, modernen, gläsernen Hochhäusern, dazu die Nähe zur Themse. In der City liegt alles so nahe beieinander. Der Begriff „currency“ etwa stammt von „current“ (Strömung). So entstand bei mir die Idee mit einem Liederzyklus, der dieses Miteinanderverbundene reflektieren sollte. In dem Werk habe ich sehr mit dem corporate Stadtbild der City gearbeitet: Der Klang lenkt die Aufmerksamkeit auf die Architektur und sorgt für eine menschliche Präsenz an Orte, die am Wochenende sonst menschenleer sind. Sie wird so menschlicher. Meine Kunst handelt aber auf subtiler Weise: Sie drängt sich nicht auf; man kann sie mitnehmen, wie der Pendler, der auf seinem Nachhauseweg ein paar Minuten verweilt, den Klängen lauscht und dann im Kopf ein paar Takte mit nach Hause nimmt.
FR: Erstmals in der Geschichte des Turner Prize gab es eine Nominierung für die Kunstform „sound sculpture“.
S. Ph.: Die Nominierung ist für mich natürlich fantastisch gewesen; ich arbeite schließlich schon eine ganze Weile als Künstlerin! Was diese Kunstform generell betrifft, so gibt es einen großen Unterschied zwischen mir und „sound artists“ wie Brian Eno, die einen musikalischen Hintergrund haben: Mein Hintergrund liegt in den bildenden Künsten. Ich betrachte mich als Künstlerin und nicht als Musikerin.
FR: Sie wurden unter anderem für das Stück „Lowlands“, das ursprünglich im Rahmen des Glasgow International Festival of Visual Art unter den Brücken Glasgows zu hören war. Man kann das Stück heute in der Turner Prize Ausstellung in der Londoner Tate Gallery zu hören. Wie ändert sich das Werk in den Räumlichkeiten einer Galerie?
S. Ph.: Es wird intimer, man hört dem Stück länger zu. Es wird dort in einer pureren Form präsentiert. Der Klang wird in die Mitte des Raumes projiziert und schafft so einen Raum in einem Raum.
FR: Inzwischen müssen Sie schon eine richtige Expertin sein, was Lautsprechertechnik und dergleichen angehen.
S. Ph.: Ich verlasse mich immer noch eher auf mein Gefühl. In Münster wollte ich einmal, dass zwei Stimme sich von den Ufern des 150 Meter breiten Aasees zurufen. Die Techniker dort hielten mich für verrückt. Ich wusste aber, dass Wind, Akustik, Wasser stimmten – und es klappte tatsächlich. Heute hilft mir bei meinen Projekten ein deutscher Techniker, der für mich und meine Arbeit inzwischen unentbehrlich geworden ist.
Interview: Louise Brown
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Letztes Wort
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„Tu montreras ma tête au peuple, elle en vaut bien la peine.“ („Du sollst meinen Kopf dem Volke zeigen, er ist die Mühe wert.“) [zu seinem Henker]
Georges Danton, französischer Revolutionär, 1794
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