berliner abendblätter 2.00 am 2.11.

2.11.
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„Uns geht´s ums Ganze“, steht auf einem Banner während der Anhörung zur Frage „Integration – Wer verweigert hier was?“ bei der Fraktion der Grünen unter Leitung von Josef Winkler und Memet Kilic. Kurz vor dem 4. Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt wird geladenen Gästen aus bundesweiten Projekten Gelegenheit gegeben über Sorgen und Hoffnungen zu sprechen. Mit unter anderen Helmuth Schweitzer aus Essen und Wolfgang Malik aus Offenbach sind alte Hasen am Start. Eine alte Häsin ist auch Frau Süßmuth, die in der Runde Platz genommen hat.
Der dank vorgeblichen Verlustes der Papiere selbstverschuldete Duldungsstatus behindert zum Beispiel in Berlin eine große Zahl von Menschen mit einer fehlenden Arbeitserlaubnis. Das Abdriften in die Beschaffungskriminalität ist damit programmiert. Programmierer sind die Gesetzgeber und ihre Ausleger, die Menschen in den Ämtern, die nur auf Nachfrage Auskünfte erteilen. Aber um Fragen, zumal die richtigen, zu stellen, bedarf es Wissen. Über dies verfügen Betroffene meist nicht. Ein Schlüssel zum „verfestigten Aufenthalt“ ist die Unabhängigkeit von Transferleistungen, als Ziel reine Illusion und im Effekt ein Teufelskreis. In Gutachten von Wirtschaftsinstituten steht seit 40 Jahren, dass Deutschland im Jahre 2010 Facharbeitermangel haben wird. Wie der mit Hilfe von Zu- bzw- Einwanderung zu beheben ist, wird seitdem debattiert. Integration war und ist buchstäblich ein Fremdwort. Schweitzer bringt es auf den Punkt: Deutschland sei eine assimilationsorientierte Gesellschaft mit einem Instrument, der Ausgrenzung. Der Vorwurf an Migrations-Hintergründler lautet: Du sprichst vielleicht mittlerweile akzentfrei, aber du denkst noch mit Akzent! Der Ernst der „Sarrazin-Debatte“ entsteht durch Ängste, die das Eindringen der Migrantenkinder in die Mitte der Gesellschaft verursacht. Das Konkurrieren mit dem eingeborenen Mittelstand verdaut dieser nicht, die gastarbeitenden Eltern waren doch noch ans Fließband gefesselt.
Was Jugendliche brauchen sind Erfolgserlebnisse aus persönlicher Leistungskraft. Der ganz zur Integration seinerseits willige Boxprojektler Malik: „Wenn wir keinen Halt geben, tut es deren Religion.“
Zur Dämonisierung des Islams zu Instrumentalisierungszwecken in der deutschen Aufnehmergesellschaft wendet Süßmuth mit Ergebnissen aus dem Religionsmonitor ein: Moslems leben wie Christen. Ihr Alltasg ist der gleiche. Und Christen haben ihren starren Kodex erst jüngst gelockert: Schweitzers Mutter wurde noch enterbt, weil sie als Katholikin einen Protestanten geheiratet hat.
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Rede von Außenminister Westerwelle vor der Vereinigung Russischer Juristen, 1. November 2010 in Moskau
— Es gilt das gesprochene Wort —
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst möchte ich mich sehr herzlich bei Ihnen für Ihre Einladung bedanken.
Als Jurist und Rechtsanwalt freue ich mich besonders, heute Gast bei der Vereinigung Russischer Juristen zu sein und mit Ihnen – unter Kollegen – diskutieren zu können.
Rechtsstaatlichkeit ist keine Norm, die man nur zu Papier bringen und im Gesetzblatt verkünden müsste, damit sie ihre Wirkung entfaltet. Vielmehr ist Rechtsstaatlichkeit auch eine Qualität, eine Eigenschaft von Gesellschaften.
Nur als Rechtsstaat ist der Staat ein Raum der Freiheit, in dem alle gleiche Rechte und gleichen Schutz genießen. Dieses Ziel ist jeden Einsatz wert.
Rechtsstaatlichkeit ist kein Anliegen unserer Menschen- und Bürgerrechtspolitik allein. Auch die Wirtschaft braucht den Rechtsstaat. Rechtsstaatliche Strukturen im Wirtschaftsleben sowie rechtsstaatliches Verhalten der Behörden schaffen Zuverlässigkeit und sind damit zentrale Voraussetzungen für Investitionen und Handel.
Unsere Modernisierungspartnerschaft ist Ausdruck der engen und vertrauensvollen Verbindungen, die seit langem zwischen unseren Ländern und Gesellschaften bestehen.
Die Modernisierungspartnerschaft hat eine breite Agenda. Das Thema Recht und Rechtsstaatlichkeit sollte ein Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit sein. Da bin ich mir mit meinem Amtskollegen Sergej Lawrow, mit dem ich heute ausführlich gesprochen habe, vollkommen einig.
Es geht im Kern um einen vertieften rechtlichen Austausch zwischen zwei Ländern, die beide dem Raum europäischer Rechtstradition angehören. Dieser Austausch sollte im Geiste der Offenheit und des gegenseitigen Respekts geführt werden und auch kritische Aspekte nicht aussparen.
Schon jetzt gibt es eine Reihe von deutsch-russischen Rechts-Projekten. Viele Akteure engagieren sich, wie beispielsweise der Petersburger Dialog, die Justizministerien, zahlreiche Universitäten und Stiftungen.
Auf dem Podium sitzen, stellvertretend für viele andere, zwei deutsche Rechtsprofessoren, die seit langem den Austausch mit der russischen Seite pflegen.
Diesen Austausch wollen wir intensivieren. Die bereits etablierten Projekte sollen stärker politisch flankiert, besser koordiniert und erweitert werden.
Deutschland und Russland könnten jedes Jahr ein Symposium veranstalten, an dem Vertreter aller drei Gewalten sowie Wissenschaftler, Rechtsanwälte und Unternehmen teilnehmen. In zusätzlichen Veranstaltungen würden die gewählten Themen vertieft.
Auch die gemeinsame deutsch-russische Juristenausbildung sollten wir stärker fördern. Ziel ist es, eine junge Generation von Juristen heranzubilden, die in den Rechtssystemen beider Länder ausgebildet ist.
Deutschland bietet an, ein deutsch-russisches Programm zur Förderung der juristischen Forschungszusammenarbeit ins Leben zu rufen, das vor allem der Spezialisierung des wissenschaftlichen Nachwuchses dient. Das Programm sollte gemeinsam finanziert werden. Deutschland ist bereit rund 600.000 Euro zur Verfügung zu stellen.
Rechtszusammenarbeit ist ein Dialog, und Dialog findet zwischen Menschen statt. Ich bin heute bei Ihnen, weil wir gerade die Juristen beider Länder gewinnen wollen, um unser gemeinsames Projekt in die Tat umzusetzen.
Auch würde ich gern von Ihnen erfahren, welche Felder der Zusammenarbeit aus Ihrer Sicht die fruchtbarsten sind.
Die Liste an interessanten und sinnvollen Themen ist lang:
Die Gewährleistung einer bürgerfreundlichen und transparenten Verwaltung ist zum Beispiel ein Bereich, über den auch in Deutschland viel diskutiert wird.
Auch Migration und Integration sind aktuelle Themen, mit denen Deutschland wie Russland ihre eigenen Erfahrungen gesammelt haben und über die wir uns austauschen sollten.
Ferner bietet sich die laufende Reform des Zivilrechts in Russland als Thema an.
Weitere Rechtsgebiete sind denkbar. Nehmen Sie etwa das Handels- und Gesellschaftsrecht, oder das Verbraucherschutz- und Umweltrecht.
Die Rechtszusammenarbeit unserer Länder steht nicht im luftleeren Raum. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland haben heute eine Intensität erreicht, wie man sie noch vor zwanzig Jahren kaum für möglich gehalten hätte. Die wirtschaftliche Verflechtung, die politische Zusammenarbeit, der kulturelle Austausch, die zivilgesellschaftlichen Kontakte – in allen Bereichen stehen unsere Beziehungen heute auf einem breiten und soliden Fundament.
Mir liegt viel an einer weiteren Annäherung zwischen Russland und Deutschland, zwischen Russland und der Europäischen Union, ja dem Westen insgesamt. Von seiner Geschichte, seiner Geographie, seiner Kultur ist Russland unzweifelhaft Teil der europäischen Familie.
Ich habe die Vision eines Europas gemeinsamer Freiheit, gemeinsamer Sicherheit und gemeinsamen Wohlstands. Hierzu kann auch die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Rechts einen wichtigen Beitrag leisten. Vor uns liegt eine europäische Gestaltungsaufgabe. Ich wünsche mir, dass sich Deutschland und Russland gemeinsam dieser Herausforderung stellen.
Doch nun bin ich gespannt auf Ihre Anregungen und Fragen zur Rechtsinitiative. Ich freue mich auf die Diskussion.
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Letztes Wort
„I should never have switched from Scotch to Martinis.“ („Ich hätte nicht von Scotch zu Martini wechseln sollen.“)
Humphrey Bogart, US-amerikanischer Schauspieler,1957