berliner abendblätter 2.00 am 26.1.

26.1.
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Todesfall Jenny Böken: Neue Vorwürfe gegen „Gorch Fock“-Crew
Vor zwei Jahren starb schon einmal eine Kadettin der „Gorch Fock“. Ihr Vater will, dass der mysteriöse Fall von damals neu aufgerollt wird. Er glaubt, dass seine Tochter sexuell belästigt wurde.
Neue Vorwürfe gegen die Stammbesatzung der „Gorch Fock: Am Donnerstag soll die eingesetzte Untersuchungskommission ihre Arbeit an Bord des Segelschulschiffs aufnehmen, das derzeit im argentinischen Ushuaia vor Anker liegt. Doch längst häufen sich die Schilderungen und Augenzeugenberichte ehemaliger Besatzungsmitglieder über die Zustände an Bord der Dreimastbark.
Dabei ist ein mysteriöser Todesfall, der sich vor zwei Jahren an Bord des Schiffes ereignet hat, neu in den Focus geraten. Am 3. September 2008 stürzte die Kadettin Jenny Böken im Alter von 18 Jahren über die Reling. Ihre Leiche wurde zwei Tage später vor Helgoland auf dem Wasser gezogen, die Staatsanwaltschaft ging von einem Unglücksfall aus.
Laut einem Bericht der „Bild“-Zeitung fordert ihr Vater jetzt eine Neuaufnahme der Ermittlungen. Er vermutet, dass seine Tochter möglicherweise vor dem Vorfall sexuell belästig worden sein könnte. „Ich halte es durchaus für möglich, dass Jenny bedrängt wurde und bei einer Rangelei über Bord ging. Ein Unfall macht einfach keinen Sinn. Sexuelle Nötigung habe ich mir von Anfang an als Szenario vorgestellt“, so Uwe Böken.
Steinmeier verlangt Aufklärung
Unterdessen hat SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier vom Verteidigungsministerium eine rasche Aufklärung der Affäre verlangt. In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ sagte Steinmeier am Sonntagabend über die jüngsten Bundeswehr-Vorfälle und mögliche politische Konsequenzen: „Das ist kein Thema für einen Streit an der Oberfläche. Da sind zwei Menschen gestorben, ein junger Mann in Afghanistan, eine junge Frau auf der Gorch Fock. Und da ist zunächstmal Trauer und Mitgefühl für die Angehörigen.“ Gleichwohl trage eine Regierung „Verantwortung in solchen Situationen“, insbesondere der zuständige Minister.
Guttenberg verteidigt Vorgehen
Steinmeier betonte: „Wir fordern Aufklärung, und am Ende der Aufklärung (…) wird über den Verteidigungsminister zu reden sein. Das ist jetzt im Augenblick nicht die Stunde dazu.“ Er finde es „unverantwortlich, (…) wie er mit dem Parlament umgeht“.
Susanne Kastner (SPD), die Vorsitzende des Bundestags- Verteidigungsausschusses, sagte der „Passauer Neuen Presse“, das Verhalten des Ministers zeige, „wie nervös Herr zu Guttenberg ist“.
Kritik an der schnellen Abberufung des „Gorch Fock“-Kapitäns kam auch von den Grünen: „Erst sagt Guttenberg in aller Öffentlichkeit, dass die Vorverurteilungen von Soldaten infam seien. Und dann entlässt er wenige Stunden später den Kommandanten der „Gorch Fock““, sagte Verteidigungsexperte Omid Nouripour dem „Hamburger Abendblatt“. „Das ist ein Armutszeugnis für Guttenberg, der sich immer als großer Aufklärer inszeniert.“ Für die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss sei es aber „noch zu früh“. Notwendig seien dagegen Berichte der Ermittler und klare Aussagen des Ministers. Guttenberg verteidigt eine Entscheidung, sie sei „sachgerecht und notwendig“, manche Stellungnahme dazu sei „Ausdruck bemerkenswerter Ahnungslosigkeit“, hieß es in einer schriftlichen Erklärung, die sein Ministerium am Montag verbreitete.
Kauder: „Ich kann keine Informationspannen erkennen“
Nach Ansicht des SPD-Verteidigungsexperten Rainer Arnold schädigt Guttenberg mit seinem Verhalten das Ansehen der Bundeswehr. Sein Auftrag, sie nach den Vorgängen auf der „Gorch Fock“ insgesamt auf den Prüfstand zu stellen, erwecke sträflicherweise „den Eindruck, als ob wir flächendeckend ein Problem in der Bundeswehr haben“, sagte Arnold dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Es gehe aber um die Untersuchung konkreter Einzelfälle. Deren Aufklärung habe Guttenberg zunächst verschleppt, „nun verfällt er in hektischen Aktionismus“.
CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder bewertete die Vorfälle anders. Er sagte in der ARD: „Also ich kann gar keine Informationspannen erkennen, sondern die Bundeswehr klärt die Vorfälle, die jetzt innerhalb von kurzer Zeit geschehen sind, auf. Staatsanwaltschaft ist auch schon tätig. Und der Bundesverteidigungsminister legt seinen Bericht vor. Er hat, als jetzt die Dinge bekannt geworden sind, schnell gehandelt.“ Mit Blick auf die Entlassung des „Gorch Fock“-Kapitäns durch Guttenberg sagte Kauder, es sei „ein ganz normaler Vorgang, dass jemand vom Dienst suspendiert wird“.
Mittwoch wird Verteidigungsausschuss informiert
Rückendeckung erhielt der Minister auch vom Koalitionspartner FDP. „Aus Fürsorgegründen ist es absolut richtig, den Kapitän aus der Schusslinie zu nehmen, bis alles aufgeklärt ist“, sagte die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Elke Hoff, der „Passauer Neuen Presse“. Der Kommandant sei ja nicht geschasst worden, sondern könne wieder auf seinen Posten zurück, wenn die Untersuchung kein Fehlverhalten ergebe.
Am Mittwoch muss Guttenberg dem Verteidigungsausschuss Auskunft geben. Außer zu den Vorfällen auf der „Gorch Fock“ soll er dort auch zum versehentlichen Todesschuss auf einen Soldaten in Afghanistan und zum Öffnen von Feldpost aus diesem Einsatzgebiet Stellung nehmen. Der Minister will die gesamte Truppe auf Fehlverhalten überprüfen lassen. Der Chef des Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch, sagte der „Augsburger Allgemeinen“, es mache ihn „tief betroffen“, wenn die Soldaten „unter einen Generalverdacht gestellt“ würden. Er fühle sich „da schon ein bisschen an die heilige Inquisition erinnert.
Das Verteidigungsministerium trat Kritik am Umgang mit dem abberufenen Kapitän entgegen. Es gebe keinerlei Vorverurteilung, sagte ein Ministeriumssprecher der „Leipziger Volkszeitung“. „Kapitän Norbert Schatz erhielt das Kommando als sehr bewährter Offizier“ – dies gelte unverändert, auf jeden Fall bis zur Vorlage der Ergebnisse der eingesetzten Untersuchungskommission.
24. Januar 2011, stern
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In diesen Tagen führt das Schicksal drei Namen in die Medien, was eine denkwürdige Sternenkonstellationen bildet. Zunächst aber nicht als Größter nenne ich Bernd Eichinger aus Neuburg an der Donau, der vorgestern in Los Angeles gestorben ist. Er ist empirisch der erfolgreichste Filmproduzent Deutschlands, soll aber selbst gewusst haben, dass der Film mit den meisten Zuschauenden nicht der beste Film ist. Ein anderer Deutscher hat seinen Lebenslauf am selben Tage ebenfalls in der Neuen Welt beendet: Pater Paul Zahl aus Freiburg im Breisgau starb auf der Insel Jamaika, seinem Lebensmittelpunkt seit Jahrzehnten. Der dritte Deutsche, Großbürgerssohn aus Charlottenburg, hat gestern lebendigen Leibes seinen 100. Geburtstag in Röbel an der Müritz gefeiert: Kurt Maetzig. Er ist altersmäßig fast ein Zwilling von Ronald Reagan und war wie dieser auch beim Film gelandet. Er hat die DEFA mitgegründet und in der Ostzone und in der DDR Filme gedreht, Propaganda-, Science fiction- und verbotene Filme in dieser Reihenfolge. Hätte er beim Bau der Mauer gedacht, sie fiele in seine erste Lebenshälfte? Und hatte er geglaubt, sie noch einmal fallen zu sehen? Seine Mutter war jüdischer Abstammung und beging Selbstmord, hatte ihrem Sohn aber dennoch eingeschärft: „Es gibt immer zwei bis 17 Möglichkeiten.“. Er studierte Technisches in München und Geistiges an der Sorbonne. 1937 erhielt er im Reich Berufsverbot. Zum besseren Deutschland hat es bei der DDR langfristig nicht gereicht. Sie wurde kleineres Übel. Als er die Wochenschau „Der Augenzeuge“ produzierte gab er ihr das Motto, das später von den Entscheidern eskamotiert wurde und den Abendblättern gut anstünde: „Sie sehen selbst! Sie hören selbst! Urteilen Sie selbst!“
Ein Extrablatt befasst sich allerdings mit dem vergessenen Peter Paul Zahl.
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Letztes Wort
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„I see nothing but death before me; I shall never reach the shore.“ („Ich sehe nichts als den Tod vor mir; ich werde die Küste nie erreichen.“) [auf einem Schiff]
Margaret Fuller, US-amerikanische Journalistin, Kritikerin und Aktivistin für Frauenrechte, 1850
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Extrablatt
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Peter-Paul Zahl starb in Port Antonio in der Karibik
Peter-Paul Zahl (* 14. März 1944 in Freiburg im Breisgau; † 24. Januar 2011 in Port Antonio, Jamaika) war ein deutsch-jamaikanischer Schriftsteller.
Peter-Paul Zahl verbrachte seine Jugend in Feldberg (Mecklenburg). Sein Vater war Jurist und Verleger (Peter-Paul Verlag). Im Jahre 1953 floh die Familie Zahl nach Westdeutschland und ließ sich in Ratingen im Rheinland nieder. Zahl besuchte die Schule bis zur Mittleren Reife und lernte anschließend Kleinoffsetdrucker. Er schloss seine Berufsausbildung mit der Gesellenprüfung ab.
1964 ging Zahl, um keinen Wehrdienst leisten zu müssen, nach West-Berlin. 1965 begann er mit dem Verfassen eigener Texte, 1966 wurde er Mitglied in der von Max von der Grün initiierten Gruppe 61. 1967 gründete Zahl eine eigene Druckerei mit Kleinverlag, der vorwiegend gegenkulturelle Zeitschriften wie Hans Taegers pro these und linke, rätekommunistische und anarchistische Texte veröffentlichte. Zahl gab den SPARTAKUS zeitschrift für lesbare literatur (1967–1972), die zwerg-schul-ergänzungshefte und p. p. quadrat heraus. Der erste p. p. quadrat Band war Amerikanischer Faschismus von Bernd Kramer. Zahl war an der agit 883 beteiligt, er schrieb auch für das Ulcus Molle Info und den Metzger. Er veröffentlichte 1970 seinen ersten Roman Von einem, der auszog Geld zu verdienen im Düsseldorfer Karl Rauch Verlag.
In Berlin kam Peter-Paul Zahl mit der beginnenden Außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung in Berührung. Er gehörte zu einer klandestinen Kleinstorganisation, die sich Up against the wall, Motherfuckers! nannte und sich darauf spezialisierte, schwarzen GIs aus Berliner Kasernen die Flucht nach Schweden zu ermöglichen.
1970 wurde er wegen des Drucks eines von Holger Meins gestalteten Plakates Freiheit für alle Gefangenen!, das die Rote Armee Fraktion unterstützen sollte, wegen Öffentlicher Aufforderung zu Straftaten zu einem halben Jahr Haft auf Bewährung verurteilt.
Im Dezember 1972 geriet Zahl bewaffnet in eine Polizeikontrolle, der er sich durch Flucht zu entziehen versuchte; es kam zu einem Schusswechsel mit der Polizei, bei dem ein Polizist schwer verletzt wurde. 1974 wurde Zahl wegen dieser Tat vor dem Landgericht Düsseldorf angeklagt und wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt. Dieses Urteil wurde vom Bundesgerichtshof 1975 aufgehoben. In einem neuen Verfahren wurde Zahl 1976 wegen versuchten Mordes in zwei Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Zahl wurde die ersten Jahre seiner Strafe in Einzelhaft gehalten, was er zu einer umfangreichen literarischen Produktion nutzte; erst 1980 kam er in den Normalvollzug. Von 1981 an war er Freigänger, 1981/82 Regie-Volontär an der Berliner Schaubühne. Im Dezember 1982 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen.
Zwischen Rose Hill und Ratingen
Nach seiner Haftentlassung hielt sich Zahl auf Grenada, in Nicaragua, auf den Seychellen und in Italien auf. Seit 1985 lebte und arbeitete er abwechselnd in Long Bay (Jamaika) und Ratingen. Neben Romanen schrieb er Theaterstücke für deutsche Bühnen und ab 1994 trat er auch als Autor von Kriminalromanen hervor. Sein Theaterstück über Georg Elser wurde in der Spielzeit 1981/1982 im Schauspielhaus Bochum aufgeführt von Claus Peymann und Hermann Beil.
Im September 2002 zog die deutsche Botschaft in Kingston (Jamaika) Peter-Paul Zahls deutschen Pass ein, da er 1995 in Jamaika eingebürgert worden war, ohne sich dies vorher von deutschen Behörden genehmigen zu lassen. Dagegen führte Zahl ein Verfahren vor dem Berliner Verwaltungsgericht, außerdem stellte er beim Bundesverwaltungsamt in Köln einen Antrag auf Wiedereinbürgerung. Ab dem 16. November 2004 war Peter-Paul Zahl wieder deutscher Staatsangehöriger. Das Bundesverwaltungsamt stellte ihm am 8. November 2004 eine Einbürgerungsurkunde aus. Darin heißt es: „Peter-Paul Gerhard Heinz ZAHL – hat mit dem Zeitpunkt der Aushändigung dieser Urkunde die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung erworben.“ Die Einbürgerungsurkunde erhielt Zahl am 16. November 2004 in der Deutschen Botschaft in Kingston überreicht, die Aushändigung des Passes verzögerte das Auswärtige Amt allerdings bis zum Mai 2005.
Im 19. April 2006 ging es vor dem Verwaltungsgericht Berlin darum, ob Bundesregierung/Auswärtiges Amt – vertreten durch die Botschaft in Jamaika – zu Recht den Pass eingezogen hatten. Ergebnis: die beklagte Bundesregierung nahm den Bescheid über den Einzug des Passes zurück, die Kosten des Verfahrens werden zwischen Kläger und Beklagtem geteilt. Peter-Paul Zahl hatte nun, aufgrund der Wiedereinbürgerung, legal zwei Staatsbürgerschaften.
Zahl starb am 24. Januar 2011 in Jamaika, nachdem er sich im Vorjahr in Deutschland wegen eines Krebsleidens hatte behandeln lassen.
Preise und Auszeichnungen
* 1980: Literaturförderpreis der Freien Hansestadt Bremen
* 1995: Friedrich-Glauser-Preis der „Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur“ – Das Syndikat für Der schöne Mann
* 1998: Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen

Werke
* Elf Schritte zu einer Tat. Berlin 1968
* Von einem, der auszog, Geld zu verdienen. Düsseldorf 1970
* Eingreifende oder ergriffene Literatur. Gaiganz 1975
* Schutzimpfung. Berlin 1975
* Die Barbaren kommen. Hamburg 1976
* Wie im Frieden. Leverkusen 1976
* Alle Türen offen. Berlin 1977
* Waffe der Kritik. Frankfurt (Main) 1977
* Freiheitstriebtäter. Hamburg 1979
* Die Glücklichen. Berlin 1979
* Schreiben ist ein monologisches Medium. Berlin 1979
* Die Stille und das Grelle. Frankfurt 1981
* Johann Georg Elser. Ein deutsches Drama. Rotbuch, Berlin 1982,
* Konterbande. Frankfurt am Main 1982
* Aber nein, sagte Bakunin und lachte laut. Berlin 1983
* Der Staat ist eine mündelsichere Kapitalanlage. Berlin 1989
* Die Erpresser. Eine böse Komödie. Musik und Lieder von Georg Danzer. Kramer, Berlin 1990
* Der Meisterdieb. Frankfurt am Main 1992
* Fritz, a German hero. Wien [u.a.] 1994
* Der schöne Mann. Berlin 1994
* Nichts wie weg. Berlin 1994
* Teufelsdroge Cannabis. Berlin 1995
* Lauf um dein Leben. Berlin 1996
* Johann Georg Elser. [Kammerspielfassung], Grafenau 1996
* Das Ende Deutschlands. Berlin 1997
* Don Juan oder der Retter der Frauen. Grafenau-Döffingen 1998
* Geheimnisse der karibischen Küche. Hamburg 1998
* Ananzi ist schuld. Berlin 1999
* Der Domraub. München 2002
* Jamaika. München 2002
* Anancy Mek It. (Bedtimes Stories) Kingston 2003
* How the Germans Liberated Namibia. CD. Berlin und Long Bay 2004
* Im Todestrakt. Frankfurt 2005
* Kampfhähne. Frankfurt 2005
* Miss Mary Huana. Köln 2007
Übersetzungen
* mit Reinhard Thoma: Otto René Castillo: Selbst unter der Bitterkeit. München 1983.
* Ramón José Sender: Sieben rote Sonntage. Zürich 1991.
* Victor Serge: Geburt unserer Macht. München 1976.
Literatur
* Erich Fried (Hrsg.): Am Beispiel Peter-Paul Zahl. Frankfurt 1976.
* Der Fall Peter-Paul Zahl. Frankfurt 1978.
* Von einem, der nicht relevant ist. Münster 1979.
* Rudi Dutschke: Georg Büchner und Peter-Paul Zahl. In: Georg Büchner Jahrbuch. 4/84, Frankfurt 1986.
* H.-V.Gretschel: Die Figur des Schelms im deutschen Roman nach 1945. Frankfurt 1993.

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Schriftsteller Peter-Paul Zahl gestorben
Kein Heros vom Establishment
Im Alter von 66 Jahren ist der Schriftsteller und Herausgeber der früheren Anarchozeitung „Agit 883“ Peter-Paul Zahl auf Jamaica gestorben. VON JÖRG SUNDERMEIER
Lebte und arbeitete seit 1985 auf Jamaica: Schriftsteller Peter Paul Zahl. Foto: dpa
Es war unklar, ob der Preisträger persönlich erscheinen konnte, denn er war ein Häftling, der gerade erst aus der Einzelhaft in den Normalvollzug überstellt worden war.
Als dem 1944 in Mecklenburg geborenen Peter-Paul Zahl im Jahr 1980 der Literaturförderpreis der Freien Hansestadt Bremen verliehen wurde, saß dieser junge Autor schon seit rund acht Jahren im Knast. Als mutmaßlicher Terrorist. Er hatte sich im Jahr 1972 seiner Verhaftung widersetzt, dabei von der Schusswaffe Gebrauch gemacht und einen Polizisten schwer verletzt.
Die Haftjahre nutzte Zahl, der bereits 1968 mit einem Buch in Erscheinung getreten war, zum Schreiben nicht nur politischer Texte. 1979 erschien dann schließlich sein berühmtester Roman „Die Glücklichen“, in der Zahl eine Alternativkultur beschrieb, die viele, die von den Utopien der Jahre 68 ff. geprägt waren, sehr gut kannten. „Die Glücklichen“ wurde zum Kultbuch.
Der im Dezember letzten Jahres verstorbene Peter O. Chotjewitz, der nicht nur Schriftstellerkollege, sondern auch Zahls Anwalt war, erinnerte sich vor einigen Jahren, dass er Zahl – obschon dieser immerhin wegen versuchten Mordes in zwei Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war und als politischer Häftling galt – einfach so mit dem Privatwagen aus der Haftanstalt abholen durfte. Chotjewitz, der selbst als Unterstützer der RAF angeklagt gewesen war, musste lediglich garantieren, den Häftling später auch brav wieder abzuliefern. Der Strafvollzug für Staatsfeinde war nach dem Deutschen Herbst des Jahres 1977 nicht immer ohne Witz.
Zahl nun erhielt den wichtigen Literaturpreis, und seine Schriften wurden somit von der Literaturkritik quasi geadelt. Mit geadelt wurde dabei allerdings auch immer der linksradikale Aktivist, der bei der legendären Berliner Untergrundzeitschrift 883 mitwirkte (und nicht nur bei dieser), der amerikanische GIs bei der Desertation und der Flucht nach Schweden unterstützte, der als Betreiber einer kleinen Druckerei half, so manch einer klandestinen Schrift eine Öffentlichkeit zu geben. Er war der Verleger von Westberliner Anarchisten und Gutlebeleuten, er selbst war auch durchaus ein Lebemensch.
Die Bremer Preisverleihung im Jahr 1980 war ein kleiner Skandal. Der damals noch weitgehend linksliberal gesonnene Literaturbetrieb genoss die Aufregung um den Preisträger. Dieser selbst genoss sie offensichtlich ebenso.
Nach der Haftentlassung, im Dezember 1982, und nach einigen merkwürdigen Wiedereingliederungsmaßnahmen für den bereits anerkannten Schriftsteller blieb Zahl ein linker Aktivist, doch wurde er gemäßigter. Sein Aktionsdrang verlegte sich ins literarische, er bereiste die damals für Linke interessanten Länder, schließlich ließ er sich auf der coolen Kifferinsel Jamaika nieder, der er sich auch literarisch näherte, allerdings oft auch sehr klischeehaft und oberflächlich.
Peter-Paul Zahl war kein politischer Theoretiker, kein großer Denker und kein feiner Stilist, er war manchmal derb, weil er nicht anders konnte, große Romane im Sinne der bürgerlichen Literaturkritik hat er nicht geschrieben, dennoch sind die besten seiner vielen Bücher weit mehr als nur Dokumente einer engagierten Linksliteratur. Zahl hatte Humor. Und auch Selbstironie.
Er galt als „Figur“, nicht als Autor
Dass der Ruf des Politaktivisten bis zuletzt seinen literarischen Rang überdeckte – es hatte positive und negative Folgen für ihn. Einerseits galt er den meisten Fans der „Glücklichen“ mit allem, was er publizierte, als literarischer Heros, andererseits mied ihn der etablierte Literaturbetrieb zusehends. Er galt als „Figur“, nicht als Autor.
Auch der Umstand, dass ihm mit dem Glauser im Jahr 1995 für seinen Krimi „Der schöne Mann“ einer der wichtigsten Krimipreise verliehen wurde, änderte nichts daran. In den letzten zwei Jahren suchte Zahl noch Verlage für neue und vergriffene Titel, doch er wurde – soweit bekannt ist – nicht mehr fündig. „Miss Mary Huana“ von 2007 ist sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch.
Dieses Schicksal hat er, bei aller berechtigten Kritik an seinen manchmal doch mit allzu heißer Nadel gestrickten Büchern, nicht verdient.
Am Montag starb Zahl im Alter von 66 Jahren im Krankenhaus von Port Antonio auf der Insel Jamaica. Im vergangenen Jahr hatte sich Zahl wegen eines Krebsleidens noch in Deutschland behandeln lassen und kehrte dann in sein Haus in Longbay zurück.
taz, Jörg Sundermeier, 25.1.
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Zum Tod von Peter Paul Zahl
Elf Schritte zu einer Tat und dann weg
Nach einem Schusswechsel mit der Polizei saß er zehn Jahre im Gefängnis. Jetzt ist der deutsche Dichter, Verleger und Weltreisende Peter Paul Zahl in seiner Wahlheimat Jamaica im Alter von 66 Jahren gestorben.
Ein sehr untypisches deutsches Dichterleben: Peter Paul Zahl (1944 bis 2011)Ein sehr untypisches deutsches Dichterleben: Peter Paul Zahl (1944 bis 2011)
Am 22. Mai 1976 veröffentlichte diese Zeitung in der „Frankfurter Anthologie“ das Gedicht eines Mannes, der damals im Gefängnis saß – von Peter Paul Zahl. Es hieß „mittel der obrigkeit“ – die Kleinschreibung und der Verzicht auf Interpunktion waren Stilmittel – und handelte von schlagenden Polizisten. Zahl sah die reine Brutalität: „man muss sie gesehen haben / diese gesichter unter dem tschako / während der schläge“. Sie schlagen weiter, und im gleichen Rhythmus ergeht die Aufforderung zum Blick in ihre Gesichter.
Am Ende wird ihnen dennoch eine mögliche Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung nicht versagt: „sag nicht: die schweine / sag: wer hat sie dazu gebracht“. Ob Zahl auch dem Polizisten ins Gesicht zu sehen vermochte, den er im Dezember 1972 bei einem Schusswechsel schwer verletzt hatte? Wegen dieser Tat wurde er zunächst zu vier Jahren Haft verurteilt – die Anklage hatte auf „gefährliche Körperverletzung“ gelautet –, das Urteil aber wurde aufgehoben, und am Ende stand eine Strafe von fünfzehn Jahren wegen versuchten Mordes. 1982 wurde Zahl entlassen.
Am 14. März 1944 wurde Zahl in Freiburg im Breisgau geboren. Zum Dichter, Verleger und Schriftsteller wurde er in Berlin, wohin er gegangen war, um dem Wehrdienst auszuweichen, auf dem eher praktischen Weg einer Druckerlehre. Er machte sich in literarischen Kreisen bald einen Namen, aber zunächst nicht in den akademischen Zirkeln – er hatte nur die Mittlere Reife –, sondern in der „Gruppe 61″, die in der industriellen Arbeitswelt den vornehmsten Gegenstand der schriftstellerischen Aufmerksamkeit zu finden glaubte. 1968 erschien sein Gedichtband „Elf Schritte zu einer Tat“.
Nach der Haftentlassung und einem Praktikum an der Berliner „Schaubühne“ wurde Zahl ein Weltenbummler, bis er sich endgültig in Jamaica niederließ. „Müßiggang ist aller Tugenden und Künste Anfang“ heißt es in seinem Roman „Miss Mary Huana“, dessen Titel sicher dem Genius loci der Insel angemessen war. Noch einmal schrieb die Presse über ihn, als ihm, der die jamaicanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, der deutsche Pass entzogen wurde, den er dann doch zurückbekam. Sein „Rose Hill Cottage“ vermietete er und fristete davon seinen Unterhalt. Auch schrieb er weiter, Kriminalromane, einen Reiseführer, ein Drama über den Hitler-Attentäter Georg Elser. Am Montag ist Peter Paul Zahl in Port Antonio (Jamaica) gestorben.
faz, 25.1., Lorenz Jäger