Berliner Abendblätter 2.00 am 4.10.

4.10.
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Wulff in Bremen, der Partnerstadt Danzigs und Sitz des amtierenden Bundesratspräsidenten, mit erkältet-brüchiger Stimme
Der Politologieprofessor Agnoli pflegte in seinen Berliner Vorlesungen den Unterschied zwischen Deutschland und Italien wie folgt darzustellen: in Italien gehe es dem Staatswesen miserabel, aber das Volk sei guter Dinge, in Deutschland genau umgekehrt. Wenn Wulff am 20. Geburtstag der deutschen Einheit fragt „Geht es Deutschland wieder gut?“ vermeidet er die richtige Antwort: Den Deutschen geht es nämlich schlechter!
Ein Musterknabe oder Streber ist daran zu erkennen, dass er Erwartungen zu vollkommener Zufriedenheit erfüllt. Was die Erwartungen entscheidender Menschen in der Republik betrifft, tut dies Wulff sicher.
George Bush wird als Alliierter, Wolfgang Schäuble als deutscher Politiker zum Dank herausgehoben.
Ein schiefes Bild unterläuft ihm mit dem Appell „Hoffnungen zu verwirklichen“, können wir doch nur Zustände oder Ereignisse verwirklichen, auf die unsere Hoffnungen gehen.
Statt Blutschweißundtränen verkündet das Oberhaupt „Große Aufgaben, neuen Mut, neuen Zusammenhalt“.
Er warnt: Versprechen alter Gewissheiten seien populär und trügerisch.
Er malt an die Wand: neue Bedrohungen von außen.
Er unkt: Große Unterschiede gefährden den Zusammenhalt
Er freut sich: Unverkrampften Patriotismus nennt mit Hegel maßnehmend „Selbstbewusstsein im Sinne des Wortes“.
„Wohin einer will?“ sei die entscheidende Frage. Nicht: „Woher einer kommt?“
Rau wird als einziger seiner Vorgänger zitiert mit dem Motto: „Ohne Angst und ohne Träumereien gemeinsam in Deutschland leben“.
Zu den traditionellen Religionen Christentum und Judentum sei der Islam inzwischen in Deutschland ebenso zugehörig. Wie Goethe schon sagte im west-östlichen Diwan: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen, Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“
In der Rede fehlt: die schwäbische Hausfrau, die jetzt am Bahnhof Stuttgart demonstriert?
Es fehlt nicht: Kirsten Heißig, Staatsanwältin in Neukölln. Die aus dem Leben geschiedene Buchautorin wird mit diesem Gedanken zitiert: „Wenn die Menschen staatlich alimentiert werden, darf die Gemeinschaft doch erwarten, dass die Kinder in die Schule geschickt werden um später einen eigenständigen Beitrag zur Gesellschaft leisten zu können.“
Der Zukunft zugewendet erschallt der Ruf: „Freiwilliges soziales Jahr für Ältere!“ Wie viele einst an die Einheit geglaubt haben, müssten wir an die Zukunft aller glauben! „Manches kostet keinen Cent: nur Zeit und Zuwendung.“ Eltern sollen ihren Kindern sagen: „Strengt euch an!“ Unternehmer müssen Schulze und Yilmaz eine Chance geben. „Weil jemand mehr tut als er muss, entsteht das Große“ (Hermann Gmeiner) und „Angst ist ein denkbar schlechter Ratgeber“ (Sprichwort). „Wenn unser relatives Gewicht abnimmt“ angesichts des Aufkommens neuer starker Volkswirtschaften in der Welt bleibt Europa das Ziel!
„Wir sind zusammengewachsen.“ „Gott schütze Deutschland!“
Unterm Strich kein großer Wurf Wulffs. Er hat zuviel ausgespart, zu wenig beim Namen genannt.
Der Bundespräsident hat was vom letzten Niedersachsenwahlkampf anhängen.
Der Bundespräsident hat bei der causa Sarrazin der Bundesbank das Abschiedsprocedere diktiert wie ein absoluter Herrscher.
Der Bundespräsident hat eine Redechance verpasst.
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Behinderte Fragen
Muss man mit einem behinderten Kind spielen, nur weil es behindert ist?
Nein. Es gibt auch unter behinderten Kindern Arschlöcher, mit denen niemand spielen will. Jeder, der auf eine integrative Schule gegangen ist oder in einem Behinderteninternat gelebt hat, weiß das. Außerdem gibt es Behinderungen, die das berühmte Kindchenschema toppen. Da hat man erstmal Berührungsängste. Aber wenn man seinen guten sozialpädagogischen Ruf nicht gefährden will, dann muss man trotzdem. Ja!
Matthias Vernaldi
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Berliner Polizeibericht
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Proteste gegen Rednerveranstaltung verliefen störungsfrei
Mitte, 2.10.
Anlässlich der Rednerveranstaltung eines niederländischen Politikers (Geert Wilders) in Tiergarten wurden zwei Protestkundgebungen in unmittelbarer Nähe zum Veranstaltungsort störungsfrei abgehalten.
In der Zeit von 11 Uhr 30 bis 15 Uhr versammelten sich am Lützowplatz rund 120 Teilnehmer zu zwei Demonstrationen und protestierten unter dem Motto „Protestieren, Hinsetzen und Blockieren“ gegen die Podiumsveranstaltung. Gegen einen 55-jährigen Mann leiteten die Polizisten ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung ein. Insgesamt 250 Polizeibeamte waren an dem Einsatz beteiligt.
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Letztes Wort:
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„Is it not meningitis?“ („Ist es nicht Meningitis?“) Quelle: Louisa May Alcott: Her Life, Letters and Journals; Kessinger Publishing,  S. 371
Louisa May Alcott, US-amerikanische Schriftstellerin (1888)