Berliner Abendblätter 2.00 am 9.10.

9.10.
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Zum ersten Mal, seitdem am 23.11.1936 Carl von Ossietzky der Preis rückwirkend für das Jahr 1935 zugesprochen worden ist, ist gestern ein inhaftierter Kritiker mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden. Vermutlich weiß auch jetzt, am Tag nach der Verkündigung in Oslo, Liu Xiaobo nichts von der Anerkennung.
»Ich habe keine Feinde«
Trotz allem: Eines Tages wird die Freiheit auch nach China kommen.
Die nicht gehaltene Verteidigungsrede eines Dissidenten
© Mike Clarke/AFP/Getty Images
Liu Xiaobo ist einer der prominentesten chinesischen Regimekritiker. Ende Dezember 2008 verurteilte ihn ein Gericht zu zehn Jahren Haft. Seine Verteidigungsrede, die wir hier in Auszügen dokumentieren, durfte er nicht vortragen.
„Im Juni 1989 (als die Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking gewaltsam niedergeschlagen wurden, Anm. d. Red.) erlebte ich den größten Wendepunkt meines bislang 50-jährigen Lebens. Davor war ich einer der ersten Studenten gewesen, als nach der Kulturrevolution erstmals wieder die Aufnahmeprüfungen für die Universität stattfanden. Meine Universitätskarriere war ein sanfter Ritt vom Grundstudium über das Diplom bis hin zur Promotion. Nach dem Abschluss blieb ich als Lektor an der Pekinger Normalen Universität. Als Dozent war ich bei den Studenten beliebt. Gleichzeitig veröffentlichte ich zahlreiche Artikel und Bücher, die für Aufmerksamkeit sorgten. Ich war oft als Redner eingeladen und besuchte Europa und die USA als Gastdozent.
Als Person und Autor habe ich mir stets abverlangt, in Ehrlichkeit, mit Würde und Verantwortung zu leben. Nachdem ich aus den USA zurückkehrte, um an der Bewegung von 1989 teilzunehmen, wurde ich wegen »konterrevolutionärer Propaganda und Aufwiegelung zu kriminellen Handlungen« eingesperrt. Von da an war es mir in China verboten, etwas zu veröffentlichen oder öffentlich das Wort zu ergreifen.
Nur weil er eine abweichende politische Meinung äußert, weil er an einer friedlichen und demokratischen Bewegung teilnimmt, kann ein Dozent seine Lehrtätigkeit verlieren; kann ein Intellektueller die Möglichkeit, öffentlich zu sprechen, und ein Autor das Recht zu schreiben verlieren. Das ist traurig, nicht nur für mich, sondern auch für ein China, das drei Jahrzehnte der Öffnung und Reform erlebt hat.
Meine dramatischsten Erlebnisse nach dem 4. Juni 1989 haben allesamt mit Gerichten zu tun: zwei öffentliche Anhörungen vor dem Pekinger Volksgericht im Januar 1991 und jetzt diese hier. Die Anklage war jedes Mal unterschiedlich, doch handelt es sich im Kern stets um das Gleiche: Ich verstieß gegen das Gesetz, weil ich meine Meinung äußerte.
Der 4. Juni hat mich dazu bewogen, den Weg des Dissidententums zu beschreiten. Ich habe, seitdem ich 1991 das Qincheng-Gefängnis wieder verließ, das Recht verloren, mich öffentlich zu äußern. Es war mir nur möglich, dies über ausländische Medien zu tun. Viele Jahre lang wurde ich beobachtet, unter Aufsicht gestellt und zur Umerziehung in ein Arbeitslager gesteckt. Jetzt werde ich wieder von meinen Feinden im Regime unter Druck gesetzt. Aber ich möchte dem Regime, das mir meine Freiheit vorenthält, sagen: Ich habe keine Feinde. Weder die Polizisten, die mich überwacht, gefangen genommen und verhört haben, noch die Staatsanwälte, die mich angeklagt, noch die Richter, die mich verurteilt haben, sind meine Feinde. Ich akzeptiere eure Überwachung, euren Arrest, eure Urteile nicht, aber ich respektiere euren Beruf und eure Persönlichkeiten.
Der Hass zerfrisst die Weisheit und das Gewissen einer Person. Das Feinddenken kann den Geist einer Nation vergiften, Toleranz und Menschlichkeit zerstören und den Weg zu Fortschritt und Demokratie verstellen. Ich hoffe, in der Lage zu sein, die Feindseligkeit des Regimes mit besten Absichten zu erwidern und Hass mit Liebe zu entschärfen.
Die Politik der Reform und Öffnung hat Staat und Gesellschaft weiterentwickelt. Wir begannen, uns vom Prinzip des Klassenkampfes zu verabschieden, das die Mao-Ära dominierte. Stattdessen verpflichteten wir uns wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Harmonie. Wir lösten uns von der »Philosophie des Kampfes« und vom Feinddenken. Davon profitierte nicht nur die Marktorientierung der Wirtschaft, sondern auch die kulturelle Diversität. Langsam wandelte sich das Land hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Selbst im politischen Bereich, wo der Fortschritt am langsamsten ist, hat der Abschied vom Feinddenken dazu beigetragen, dass die Politik der Gesellschaft gegenüber toleranter geworden ist und Dissidenten nicht mehr ganz so hart verfolgt werden. Die Bewegung von 1989 galt fortan nicht mehr als »angestiftete Rebellion«, sondern als »politische Erhebung«.“
Forts. folgt
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Stichwort „Charta 08“
Manifest für Demokratie und Menschenrechte
Das Manifest der „Charta 08“ fordert eine politische Modernisierung Chinas. Es kritisiert das Regime und dessen Umgang mit den Menschenrechten massiv. Im Vorwort des 2008 verfassten Manifests heiß es: „Der Niedergang des gegenwärtigen Systems ist an einen Punkt gekommen, an dem Veränderungen obligatorisch sind.“ Die 19 Forderungen der „Charta 08“:
1. Eine neue Verfassung: Die Verfassung soll die Menschenrechte garantieren und der Unterbau für Chinas Demokratisierung sein.
2. Gewaltentrennung: Die Regierung muss in Legislative, Judikative und Exekutive geteilt werden. Provinzregierungen und Zentralregierung müssen eine klare Machtaufteilung haben.
3. Legislative Demokratie: An der Gesetzgebung Mitwirkende müssen gewählt werden.
4. Unabhängige Justiz: Das Rechtswesen muss über den Parteien stehen und unabhängig sein.
5. Kontrolle der Beamten durch die Öffentlichkeit: Das Militär sollte nach dem Willen der Regierung und der Verfassung handeln und nicht einer einzelnen Partei folgen. Polizei und öffentlicher Dienst müssen politisch neutral sein.
6. Gewährleistung der Menschenrechte: Die Würde der Menschen ist zu schützen. Niemand darf ungesetzlich verhaftet, eingesperrt, vorgeladen, verhört oder bestraft werden. Das System der Erziehung durch Arbeit in Lagern ist abzuschaffen.
7. Wahl der Regierungsbeamten: Es sollte flächendeckend freie Wahlen geben, nach dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“.
8. Gleichheit von Stadt und Land: Stadt- und Landbewohner sollten die gleichen Rechte haben. Jeder sollte die Freiheit haben, zu entscheiden, wo er leben möchte.
9. Freiheit, Vereinigungen zu bilden: jeder soll das Recht haben, eine Vereinigung zu bilden, ohne staatliche Überprüfung.
10. Versammlungsfreiheit: Friedliche Versammlungen und Demonstrationen sind ein verfassungsmäßiges Grundrecht.
11. Meinungsfreiheit: Rede- und Pressefreiheit sowie akademische Freiheit sollten universell gelten.
12. Religionsfreiheit: Religions- und Glaubensfreiheit müssen garantiert und die Trennung von Staat und Religion muss eingerichtet werden.
13. Staatsbürgerlicher Unterricht: Die ideologische Erziehung muss abgeschafft werden.
14. Schutz des Privateigentums: Bürger sollten das Recht auf Privateigentum haben und es sollte eine freie und gerechte Marktwirtschaft geben.
15. Finanz- und Steuerreform: Die Rechte der Steuerzahler müssen geschützt und öffentliche Gelder müssen kontrolliert werden.
16. Sozialversicherung: Ein soziales Sicherungssystem für alle ist aufzubauen. Es sollte eine Grundsicherung für Ausbildung, Krankheit, Alter und Arbeit geben.
17. Umweltschutz: Das Ökosystem ist zu schützen. Entwicklung muss nachhaltig und von Nichtregierungsorganisationen überprüfbar sein.
18. Eine föderative Republik: Ein demokratisches China sollte versuchen, als verantwortungsvolle, bedeutende Macht dem Frieden und der Entwicklung im Asien-Pazifik-Raum zu dienen. Langfristiges Ziel in der Auseinandersetzung mit Minderheiten in China sollte ein Bund demokratischer Gemeinden sein.
19. Wahrheit durch Aussöhnung: Der Ruf von Menschen, die aufgrund ihrer Gedanken, ihrer Worte oder ihres Glaubens kriminalisiert wurden, soll wieder hergestellt werden. Das gleiche gilt für ihre Familien. Sie sollten Wiedergutmachung erhalten. Politische Gefangene sollten freigelassen werden. Es sollte eine Wahrheitsfindungskommission ins Leben gerufen werden. Quelle: tagesschau
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Letztes Wort
„Gebt den Jungen einen freien Tag.“ [als er gefragt wurde, was er sich noch wünsche]
Anaxagoras, griechischer Philosoph und Leiter einer Schule