Berliner Abendblätter 2.00 am 5.10.

5.10

Vogelschau auf Kleistgrab
Im Literarischen Colloquium am Sandwerder tagte gestern eine Pressekonferenz, die ein Meilenstein darstellt auf dem Weg ins dritte Jahrhundert Kleist-Erinnerung. Ruth Cornelsen, zweite Frau und Witwe des größten Schulbuchverlegers der Bundesrepublik Franz Cornelsen und Kopf der Cornelsen-Stiftung, die die Schlösser Caputh, Schönhausen und Paretz, das Einsteinhaus in Caputh, die Loggia Alexandra, das Kuppelkreuz des Berliner Doms und ein unter Putz verstecktes Bild in der Liebermannvilla am Wannsee u.v.m. restauriert bzw. renoviert hat; Cerstin-Ullrike Richter-Kotowski, CDU, seit 2006 Stadträtin für Bildung, Kultur und Bürgerdienste im Bezirk Steglitz-Zehlendorf; André Schmitz, Staatssekretär für Kultur und ranghöchster Fachpolitiker für Kultur Berlins; Klaus-Henning von Krosigk, Garten- und Baudenkmalpfleger, Errichter des ersten wissenschaftlich-konservatorischen Fachreferats für Gartendenkmalpflege in der Bundesrepublik beim Senat von Berlin, stellvertretender Amtsleiter des Landesdenkmalamtes als stellvertretender Landeskonservator von Berlin; Günter Blamberger, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität zu Köln, Geschäftsführender Direktor des Wissenschaftszentrums II für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse an der Universität Gesamthochschule Kassel, Co-Direktor des Internationalen Kollegs Morphomata: Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen an der Universität zu Köln und Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft.
Die Bewegerin der Szenerie ist Frau Cornelsen, Grande Dame des berlin-brandenburgischen Kultursponsorings, Motto „Geschichte optisch erfahrbar bleiben lassen“, die 500.000 Euro für die Neuanlage des Kleistgrabs und dessen Umfelds zur Verfügung stellt. Nach eigenem Bekunden ist sie keine Antragsunterlagensichterin, sondern „fasst ins Auge“, dies aber nachhaltig. In diesem Zusammenhang bedauert sie das Ableben der Berlin-Seiten der FAZ, die ihr vielfach die Brennpunkte hätten ins Auge fassen lassen. Ein schöner Freudscher Fehler hat sich in die Presse-Information eingeschlichen, wo ihre Absichtsbekundung wie folgt zitiert wird: „Die Zusicherung einer Kostenübernahme soll beflügeln, Projekte in Angriff zu nehmen, die man ohne diese langfristige Unstützung nie begonnen hätte.“ Bei der Begehung fährt Frau Cornelsen mit dem Auto wie die anderen Spitzen der Obrigkeit vor. Alle verhalten sich ihr gegenüber, als ob sie das Geld wäre.
Krosigk hält am isometrischen Plan des Geländes einen Vortrag über Lenné („Man wollte Herr der Aussichten sein“) und den „Pücklerschen Fächer“ (von einem x-beliebigem Punkt eröffnen sich drei Blickachsen in die Landschaft, am Grab muss dafür viel Holz eingeschlagen werden, aber so viel kostet eben die „Heiterkeit“). Krosigk („als ich 1979 nach Berlin kam“ war die Stadt wüst und leer) ist irre und das tut der Stadt seit 30 Jahren gut.
Ein bezirkseigenes verwildertes Grundstück, auf dem sich die abgebrochene Villa Candide der Familie Ravené befunden hatte, wird zum Park aufgehübscht, durch den ein barrierefreier Weg zum Tatort des „berühmtesten Selbstmords der Kulturgeschichte neben Yukio Mishima“ (Blamberger) führen wird. Der Vorsitzende der Kleistgesellschaft erinnert: „Kleist hat sich mit Grazie umgebracht“. Die „letzte Inszenierung im Naturtheater“ soll auch akustisch erfahrbar sein: an Infostelen möge die Todeslitanei von Henriette Vogel und Kleist durch zwei Schauspieler gesprochen fürs Ohr abrufbar sein. Die Suche nach einem Namen für den Anderen sei ein Dokument der Nichtfestlegung, des galanten Seinlassens, der totalen Hingabe.
Angesichts der raumgreifenden Ambitionen bezeichnet die Stadträtin die Umsetzung des Vorhabens als „große Lösung“.
Im Auditorium war gezielt nach der wirklichen Grabstelle und dem Schicksal der Grabsteine gefragt worden. Wie groß sind „hundert Schritte von der Chaussee entfernt“ und wo genau war der Machnowsche Grund? Die toten Körper sind auf jeden Fall dort, irgendwo. Der von Max Ring gestiftete Grabstein befindet sich im Museum in Potsdam und ihm ist laut Gutachten nicht mehr das Verbleiben in der Luft zumutbar. Der jetzt vorfindliche Stein ist von den Nazis gesetzt. Aber Frau Cornelsen sagt: „Die Jahre haben existiert, nicht alles in der Zeit kann den Nazis zugeordnet werden.“ Blamberger schämt sich allerdings für die Scharte, dass gerade die früh sich selbst gleichschaltende Kleist-Gesellschaft den Stein vom jüdischen Feuilletonisten abgeräumt hatte.
Zwischen den Ruder- und Anglervereinen befindet sich auch eine Funktionsstelle der Wasserbetriebe. Sie kann nicht umziehen und soll äußerlich unaufdringlicher gemacht werden. Kleist hätte sich über die Berliner Kanalisation gefreut. Während der Erläuterungen Herrn von Krosigks vor Ort („Dies ist kein deutscher Friedhof!“) beginnt es hinter den Gleisen zu schießen. Dort hat ein Schützenverein sein Quartier. Salut zum Anfang, meint Blamberger. Schmitz beendet die Veranstaltung und verspricht, das nächste mal erst wieder bei der Einweihung im November 2011 hier draußen zu sein. Ist er dann noch im Amt? Und Herr Krosigk hat auch die Altersgrenze überschritten! Der Zeitdruck kommt von vielen Seiten, doch Frau Cornelsen benennt den wichtigsten Faktor: „Einen trockenen Herbst und einen milden Winter brauchen wir, sonst können wir den Zeitplan nicht einhalten.“
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Henriette Vogels Todeslitanei
Mein Heinrich, mein süße Blumenerde Süßtönender, mein Hÿazinthen=Beet, mein Wonnemeer, mein Morgen und Abendroth, meine Aeolsharfe, mein Thau, mein Friedensbogen, mein Schooßkindchen, mein liebstes Herz, meine Freude, mein Leid, meine Wiedergeburt, meine Freiheit, meine Fessel, mein Sabbath, mein Goldkelch, meine Luft, meine Wärme, mein Gedanke, mein theurer Sünder, mein Gewünschtes hier und jenseit, mein Augentrost, meine süßeste Sorge, meine schönste Jugend, mein Stolz, mein Beschützer, mein Gewissen, mein Wald, meine Herrlichkeit, mein Schwerdt und Helm, meine Großmuth, meine rechte Hand, mein Paradies, meine Thräne, meine Himmelsleiter, mein Johannes, mein Tasso, mein Ritter, mein Graf Wetter, mein zarter Page, mein Erzdichter, mein Kristall, mein Lebensquell, mein Reh, meine Trauerweide, mein Herr Schutz und Schirm, mein Hoffen und Harren, meine Träume, mein liebstes Sternbild, mein Schmeichelkätzchen, meine sichre Burg, mein Glück, mein Tod, mein Herzensnärrchen, meine Einsamkeit, mein Schiff, mein schönes Thal, meine Belohnung, mein Welttheil, meine Lethe, meine Wiege, mein Weihrauch und Mÿrrhen, meine Stimme, mein Richter, mein Heiliger, mein lieblicher Träumer, meine Sehnsucht, meine Seele, meine Nerven, mein goldner Spiegel, mein Rubin, meine Sÿrings Flöte, meine Dornenkrone, meine tausend Wunderwerke, mein Lehrer und mein Schüler, wie über alles gedachte und zu erdenkende lieb’ ich Dich.
Meine Seele sollst Du haben.
Henriette.
Mein Schatten am Mittag, mein Quell in der Wüste, meine geliebte Mutter, meine Religion, meine innere Musik, mein armer kranker Heinrich, mein zartes, weißes Lämmchen, meine Himmelspforte.
H.
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Berliner Polizeibericht
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Kundgebung und Gegenkundgebung am Breitscheidplatz weitestgehend störungsfrei
Charlottenburg-Wilmersdorf, 4.10.
Weitestgehend störungsfrei endete gestern Nachmittag eine Kundgebung unter dem Motto „Solidarität mit Thilo Sarrazin“ auf dem Charlottenburger Breitscheidplatz. Etwa 60 Demonstranten nahmen an der Kundgebung in der Zeit von 15 Uhr bis 16 Uhr 40 teil.
Eine Kundgebung mit anschließendem Aufzug „Gegen Sarrazin-Soli-Event der Rassistinnen und Rechtspopulistinnen von Pro Deutschland“ vom Olof-Palme-Platz über die Tauentzienstraße, den Ku’damm, die Hardenberg- und Budapester Straße zurück zum Olof-Palme-Platz verlief mit bis zu 260 Teilnehmern zwischen 15 und 18 Uhr 10 ebenfalls weitestgehend störungsfrei.
Um den Teilnehmern beider Veranstaltungen die freie Meinungsäußerung zu ermöglichen, trennten Polizisten beide Gruppen. Dabei kam es aus einer Gruppe von Gegendemonstranten heraus zu Rangeleien, bei denen ein Polizeibeamter mit einem Faustschlag und Tritten malträtiert wurde. Dagegen wehrte er sich ersten Ermittlungen zufolge ebenfalls mit Faustschlägen. Beim Trennen der beiden Gruppen soll es nach Aussagen einer Frau zu einer Sachbeschädigung an ihrem Fahrrad gekommen sein.
Nachdem die „Solidarität mit Thilo Sarrazin“- Demonstration vom Veranstalter als beendet erklärt worden war und ein Teil der Teilnehmer gegen 17 Uhr in den U-Bahnhof Zoologischer Garten gegangen war, versuchten etwa 20 bis 30 Gegendemonstranten, diese Personen im U-Bahnhof anzugreifen. Als die begleitenden Polizisten dies verhinderten, schlug ein 18-Jähriger einem Polizisten mit der Faust ins Gesicht.
Ein weiterer Polizeibeamter reagierte sofort und verhinderte durch eine gezielte Schlagtechnik weitere Angriffe des 18-Jährigen, der danach festgenommen wurde. Als eine 17- und eine 25-Jährige versuchten, den Festgenommenen wieder zu befreien, wurden sie ebenfalls festgenommen.
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Letztes Wort
„Kratistos.“, „Der Stärkste.“) [zu seinen Offizieren, die fragten, wer sein Reich erben solle]
Alexander der Große (323 v. u. Z.)