Berliner Abendblätter 2.00 am 6.10.

6.10.
+
Barmherzigkeit im Abgeordnetenhaus
Unterstützt mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die „Charité-Universitätsmedizin Berlin“ eine Ausstellung ins Abgeordnetenhaus platziert, die sich mit dem Schicksal des geschichtsträchtigen Krankenhauses, zu deutsch „Barmherzigkeit“, in der DDR-Zeit befasst. Hiermit findet eine Exklusion dieser Ära aus dem Gedenken zum 300-jährigen Jubiläum statt. In zwei Ausstellungen zum Anlass am Medizinhistorischen Museum und im Gropiusbau ist von der DDR so gut wie keine Rede. Die Kuratoren Laura Hottenrott und Rainer Harms haben sich unter anderem auch durch meterlange Birthler-Behörde-Akten gelesen, denn in der Vorzeigeinstitution an der Mauer war die Stasi immer dabei. Vor allem, dass Zeitzeugen zu Wort kommen, macht das Leben am Arbeitsort Charité sehr plastisch. Da an Kopfhörern gespart wurde, ist die Situation vor Ort im ersten Stock des ehemaligen Preußischen Landtags jahrmarktsartig: überall gibt es Geräuschquellen mündlicher Rede. Dazu kommen die Gespräche, die unter der Besucherschaft entstehen. Der Ort ist in diesen Tagen ganz prominent dadurch, dass er zu lebendiger Auseinandersetzung animiert. Das Spital war der Obrigkeit im Realsozialismus ein Vorzeigeobjekt mit allen Folgen: notwendige Parteizugehörigkeit bei Karrierewunsch etwa und Humorlosigkeit gegenüber auch der zahmsten Flappsigkeit. Peter Nelken, der Chef des Eulenspiegel, musste sich für eine Sondernummer seiner Zeitschrift zum 250-jährigen Jubiläum 1960 entschuldigen. Die Witze über Spassivisten waren harmlos wie in einem Versichertenblättchen der AOK. Aber der Eulenspiegel hat sich von dieser Maßregel nie wieder richtig erholt. Zu Mauerzeiten hatten die Koryphäen Schwierigkeiten, mit dem Weltstandard in der Forschung Schritt zu halten. Der berühmte Pathologe Otto Prokop kam von einer Konferenz im Westen deprimiert zurück: lag man doch 20 Jahre hinter der Höhe der Zeit zurück. Nach dem Fall der Mauer, die auch Grundstücksgrenze war, wollte der damalige schwäbische Senator Erhardt die ehrwürdige Institution wegen Unverbesserlichkeit schließen. Eberhard Diepgen, nach glanzvollem Comeback wieder Regierender Bürgermeister, verhinderte das aus sentimentalen Gründen: der Großvater Paul Diepgen, ein berühmter Gynäkologe, war 1930 Gründungsdirektor des Instituts für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften an der Friedrich-Wilhelms-Universität gewesen.
Die Schau ist noch bis Ende Oktober zu sehen.
+
Medizin-Nobelpreis an Edwards
Ein verspätetes Geschenk bekam der englische Physiologe Robert Edwards aus Leeds zu seinem 85. Geburtstag am 29.9.: die Mitteilung der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Stockholm von vorgestern:
„Er arbeitete systematisch, um sein Ziel zu erreichen, entdeckte wichtige Prinzipien der menschlichen Befruchtung und brachte es schließlich fertig, eine menschliche Eizelle im Reagenzglas zu befruchten. … Edwards hat mit seiner Arbeit eine monumentale Herausforderung bewältigt. Er musste auch starken Widerstand des Establishments überwinden.“ (aus der Begründung der Jury, Christer Höög vom Nobel-Komitee)
4.000.000 Kinder aus der „Retorte“ haben ihn zum geistigen Vater. Der andere Vater in Rom is not amused.
+
Physik-Nobelpreis nach England
Der Physik-Nobelpreis für Andre Geim und Konstantin Novoselov wurde für die Experimente mit Graphene, Kohlenstoffatome, verliehen. Dieser Stoff steckt in jedem Bleistift. Das Besondere an diesen Atomen ist ihre Zweidimensionalität als Hexagon (Sechseck). Geim: „Alles in unserer dreidimensionalen Welt hat eine Länge, Breite und eine Höhe. Zumindest haben wird das gedacht.“ Dank ihrer Zweidimensionalität sind Graphene die härteste und dünnste bekannte Struktur. Und jetzt kommt´s: Graphene können wie Gummi gezogen werden, sind gas- und flüssigkeitsdicht und leitfähig, mithin ein Ersatz für Silizium und Kupfer.
Experten sagen ein neues Kohlenstoffzeitalter voraus. Die Revolution kommt der durch Kunststoffe gleich.
+
Chemie-Nobelpreis an zwei Japaner und einen US-Amerikaner
Ei-ichi Negishi aus Mandschukuo, Akira Suzuki von der Insel Hokkaido und Richard Heck aus Springfield, Massachusetts brechen Kohlenstoffverbindungen auf und fügen sie zu neuen, komplexen Molekülen zusammen. Diese Reaktion ist für die Entwicklung von Medikamenten unentbehrlich. Fachlich handelt es sich um Palladium-Kreuzkupplungen.
„Unter Kreuzkupplungen versteht man Kupplungsreaktionen zwischen zwei unterschiedlichen Molekülen, bei denen metallorganisch katalysiert Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen geknüpft werden.Negishi-Kupplung: M = ZnR“
Die Negishi-Kupplung toleriert viele funktionelle Gruppen am Substrat. Sie ist eine sehr milde Methode und wird daher häufig eingesetzt. (Möglicher Nachteil: Das Reagenz muss aus der jeweiligen iodierten Spezies herstellbar sein. Dies ist eine großtechnisch aufwendige, weil viel Energie benötigende Methode.)
Suzuki-Kupplung: M = B(OH)2,B(OR“)2
Die Suzuki-Kupplung stellt die am weitesten entwickelte Methode der Kreuzkupplung dar. Auch wenn das (meistens ungiftige) Reagenz leicht basisch ist, werden die meisten funktionellen Gruppen toleriert.
Der große Vorteil dieser Methode ist, dass auch Reste R und R‘ über sp³-hybridisierte Kohlenstoffe verknüpft werden können.
Heck-Reaktion: Die Heck-Reaktion ist eine wichtige organisch-chemische Namensreaktion zur palladiumkatalysierten Herstellung von Arylolefinen. Sie ist aufgrund ihres speziellen Mechanismus keine klassische Kreuzkupplung i.e.S., wird jedoch aufgrund ihrer Fähigkeit, durch C-C-Bindungsknüpfung zwei unterschiedliche Substrate zu verknüpfen, hier aufgeführt.“ Wikipedia Begriff „Kreuzkupplung“
+
Die Witwe Victor Klemperers (1881-1960), Hadwig, geb. Kirchner, ist vorgestern auf dem Alten Katholischen Friedhof in Dresden beigesetzt worden. Sie war 84 Jahre alt geworden. Die damalige Literaturstudentin hatte den beliebten Professor 1952 mit 26 Jahren geheiratet. Sie konnte seine Handschrift lesen und war unentbehrlich bei der Herausgabe der Tagebücher ihres Mannes aus der Hitlerzeit 1995. Dieser liegt an der Seite seiner ersten Frau Eva in Dresden-Dölzschen begraben.
+
Morgen, 13 Uhr wird die Urne Walter Womackas im Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt. In diesen Tagen wird das Werk „Mensch, Maß aller Dinge“ vom DDR-Bauministerium in der Breiten Str. 12 abmontiert und zur Wiederverwendung an anderer Stelle im Reich der besitzenden Wohnungsbaugesellschaft gesichert. Von ihm stammt auch das Mosaik am Haus des Lehrers, von wo der Hausmeister wöchentlich einen gutgefüllten 20-Litereimer mit Steinchen wegträgt.
+
Ist es für Behinderte diskriminierend, wenn man sich weigert, sie zu schlagen?
Diese Frage ist zunächst einmal ganz einfach zu beantworten: Ja, es gibt Situationen, wo das der Fall ist. Eine Domina z. B., die einen behinderten Kunden nicht schlagen will, enthält ihm eine Dienstleistung vor, die sie anderen gewährt. Auch ein Schachspieler, der seinen behinderten Gegner nicht schlagen möchte, diskriminiert ihn, weil er ihn nicht als ebenbürtiges Gegenüber wahrnimmt. Und hier sind wir schon beim komplizierteren Teil der Antwort. Jemanden – egal wie nötig es erscheint – einen Schonraum zuzuweisen, bedeutet auch, ihn gegenüber denen abzuwerten, die nicht geschont werden müssen. Wer also will, dass sein Kind mit behinderten Kindern spielt, darf ihm nicht verbieten, sie zu schlagen.
Matthias Vernaldi
+
Letztes Wort:
+
„Waiting are they? Waiting are they? Well, let ‚em wait.“ („Sie warten? Sie warten? Na gut, lass sie warten.“) [zu seinem Doktor, der sagte, dass die Engel bereits auf ihn warten]
Ethan Allen, US-amerikanischer Freiheitskämpfer, 1789